(aktualisierte Fassung)

VENEDIG (dpa-AFX) - Vizekanzler Olaf Scholz steht an der Lagune von Venedig und verspricht: "Das wird die Welt besser machen." Er ist stolz: Die großen Industrie- und Handelsländer haben sich darauf verständig, weltweit Steueroasen auszutrocknen und von großen digitalen Unternehmen mehr Steuern zu verlangen. Am Ende habe es Szenenapplaus gegeben, berichtet der SPD-Politiker. Für den Kanzlerkandidaten ist es ein willkommener Erfolg im Wahlkampf: Über Jahre hatte er international zu den treibenden Kräften für die Reform gehört. Sie soll ein System umkrempeln, das nach rund 100 Jahren nicht mehr zeitgemäß ist.

DAS PROBLEM

In den vergangenen Jahrzehnten waren die Staaten weltweit gefangen in einem Wettrennen nach unten: Im Kampf um die Ansiedlung großer Firmen senkten sie ihre Unternehmenssteuern immer weiter. "Das ist ein Rennen, das niemand gewonnen hat", sagt US-Finanzministerin Janet Yellen. Stattdessen habe es den Ländern Ressourcen genommen, die sie eigentlich besser in die Bürger und in Infrastruktur, also in Schulen, Krankenhäuser oder in die Rente, gesteckt hätten.

Letztlich zahlten global agierende Konzerne - besonders große Digitalunternehmen wie Amazon und Google - oft kaum Steuern, weil sie Gewinne in Steueroasen verschoben oder mit Tricks Milliarden sparten. Das sei unfair im Vergleich zum kleinen Handwerksbetrieb oder dem Buchladen um die Ecke, heißt es vom deutschen Finanzministerium.

DIE LÖSUNG - ZWEI SÄULEN

Geplant sind nun zwei Neuerungen: Alle international tätigen Unternehmen sollen - egal wo sie ihren Sitz haben - mindestens 15 Prozent Steuern zahlen. Dabei wird keinem Staat ein Steuersatz vorgeschrieben. Aber zahlt ein Unternehmen mit seiner Tochterfirma im Ausland weniger Steuern, kann der Heimatstaat die Differenz einkassieren. Es würde sich also nicht mehr lohnen, Gewinne in Steueroasen zu verlagern.

Beim zweiten Teil der Reform geht es um die Verteilung des Steuerkuchens unter den Ländern. Große Unternehmen sollen nicht mehr nur in ihrem Mutterland besteuert werden, sondern auch da, wo sie gute Geschäfte machen. Das betrifft auch die Digitalkonzerne, die durch Internetverkäufe oder Werbeklicks dort hohe Gewinne machen, wo sie gar keine Niederlassung haben. Nach den bisherigen Regeln müssen sie dort keine Steuern zahlen. Das soll sich ändern - an der genauen Formel für die Verteilung wird aber noch gearbeitet.

KONSEQUENZEN FÜR DEUTSCHE UNTERNEHMEN

Die neuen Verteilungsregeln sollen nur für große und hochprofitable Konzerne gelten. Wie viele deutsche Unternehmen darunter fallen, ist unklar. Eine Studie des ifo-Instituts für das Finanzministerium, aus der "Welt am Sonntag" zitierte, listet acht Firmen auf: den Elektronikhändler Ceconomy , die Deutsche Telekom , Henkel , RWE , Bayer , SAP , Adidas und die Deutsche Post . Stärker aber dürften die großen amerikanischen Digitalkonzerne wie Google und Apple betroffen sein, die dann mehr Steuern in Europa zahlen müssten.

Seine Unternehmensbesteuerung müsste Deutschland wohl nicht anpassen. Denn schon jetzt zahlen Unternehmen hierzulande eher 30 Prozent als den geplanten Mindestsatz von 15 Prozent. In elf anderen EU-Ländern dagegen gibt es nach Angaben von EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni derzeit Unternehmenssteuern von unter 15 Prozent.

WAS FÜR DEUTSCHLAND RAUSSPRINGT

Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) rechnet allein durch die Mindeststeuer mit 150 Milliarden Dollar Steuer-Mehreinnahmen weltweit. Die Umverteilung könnte den sogenannten Marktstaaten noch mal mehr als 100 Milliarden Dollar bringen. Gesicherte Angaben für Deutschland gibt es nicht: Die ifo-Wissenschaftler rechnen mit 0,7 bis 0,9 Milliarden Euro durch die Umverteilung, nach EU-Angaben könnten die Mindeststeuer außerdem 5,7 Milliarden Euro für Deutschland einbringen.

WIE ES WEITERGEHT

132 der 139 OECD-Staaten haben inzwischen auf Arbeitsebene zugestimmt, darunter auch bekannte Steueroasen wie die Cayman-Inseln. Die drei EU-Staaten Irland, Estland und Ungarn dagegen verweigern sich bisher - wohl auch, weil niedrige Unternehmenssteuern ihr Geschäftsmodell sind. Irlands Finanzminister Paschal Donohoe fürchtet, sein Land könne ein Fünftel der Unternehmenssteuereinnahmen verlieren. In Scholz Ministerium ist man sich trotzdem sicher, dass man die drei noch "auf Linie bringen" kann.

Nach dem Beschluss der G20-Staaten sollen jetzt Detailfragen geklärt werden. Unter anderem wird noch darum gerungen, wie genau man Unternehmensgewinne definiert. Einige Länder wie Frankreich hätten außerdem gern einen höheren Mindeststeuersatz. Scholz will, dass die Reform 2023 in Kraft tritt. Für die neuen Verteilungsregeln soll ein multilateraler völkerrechtlicher Vertrag geschlossen werden. Die Mindeststeuer muss in den Staaten einzeln umgesetzt werden.

DIE STOLPERFALLEN

Scholz ist sicher, dass nichts mehr schiefgeht. Doch nicht nur die drei EU-Abweichler könnten ein Problem werden, auch eine klare Mehrheit des US-Kongresses ist nicht ausgemacht - auch wenn sich Yellen zuversichtlich zeigt und den besonderen Nutzen der Reform für die Amerikaner betont. Ein Problem könnten nationale Digitalsteuern sein, die es zum Beispiel in Frankreich, Spanien und Italien gibt. Für einen sauberen Deal müssten sie zurückgenommen werden. Yellen hat das in Venedig auch angemahnt. Wirtschaftskommissar Gentiloni aber will an EU-Plänen für eine Digitalabgabe festhalten.

DIE SCHLUPFLÖCHER

Ob die Reform den Wettkampf um die Ansiedlung großer Unternehmen wirklich ausbremsen kann, ist ungewiss. Denn niemand verbietet es den Staaten, Firmen mit anderen Erleichterungen zu locken. Denkbar wären zum Beispiel geringere Sozialabgaben, niedrigere Grundsteuern oder hohe Forschungszulagen und Ansiedlungszuschüsse. Kritiker, darunter Abgeordnete von Union und Grünen im Bundestag, monieren außerdem, dass Ausnahmen für Banken, Schifffahrt und Rohstoffindustrie geplant sind. Große Frachtschiffe können damit zum Beispiel weiter günstig unter der Flagge von Steueroasen wie Panama, Liberia oder den Marschall-Inseln fahren./tam/DP/he

Quelle: dpa-Afx