BERLIN (dpa-AFX) - Millionen Menschen können sich in den kommenden Monaten mit dem Impfstoff von Johnson & Johnson ohne Zugehörigkeit zu einer Vorranggruppe impfen lassen. Das entschieden die Gesundheitsminister von Bund und Ländern am Montag. Bei diesem Impfstoff reicht eine Spritze für den vollen Schutz. Er kann ähnlich wie der Impfstoff von Astrazeneca aber selten schwere Nebenwirkungen haben. Deshalb ist vor einer Entscheidung für das Vakzin bei Menschen bis 60 Jahren ärztliche Aufklärung und individueller Risikoanalyse vorgeschrieben. Regelhaft eingesetzt werden soll der Impfstoff erst bei Personen ab 60 - allerdings wird er in Deutschland großteils erst geliefert, wenn die Älteren ganz überwiegend schon geimpft sind.

Die Priorisierung ist für das Johnson-&-Johnson-Präparat in Arztpraxen und bei Betriebsärzten aufgehoben. Nach Auskunft von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) soll dies ermöglichen, die Impfkampagne weiter "pragmatisch" und "mit Geschwindigkeit" voranzutreiben. Die Ständige Impfkommission (Stiko) hatte die Empfehlung einer Impfung des Präparats "für Personen im Alter >60" vorgeschlagen. Erst in der vergangenen Woche hatten die Gesundheitsminister beschlossen, dass Corona-Impfungen mit dem Präparat von Astrazeneca künftig für alle möglich sind, wenn sich Impfwillige mit ihrem Arzt dafür entscheiden.

Verantwortliche für Flüchtlings- und Obdachloseneinrichtungen äußerten Bedenken wegen der Empfehlung des Einsatzes des Johnson-&-Johnson-Präparat bei der Gruppe über 60. Weil es bisher das einzige Präparat ist, bei dem eine Impfung reicht, ist es in vielen Kommunen für Menschen vorgesehen, bei denen ein zweiter Termin schlecht planbar ist.

BEDEUTUNG VON JOHNSON & JOHNSON:

In Deutschland haben die Impfungen mit dem Präparat des US-Konzerns laut Paul-Ehrlich-Institut (PEI) Ende April begonnen. Bisher sind erst knapp 20 000 Impfungen damit in Deutschland erfasst. Spahn sagte, 450 000 Dosen seien geliefert, die bisher vorrangig damit arbeitenden mobilen Impfteams in Flüchtlings- und Obdachloseneinrichtungen meldeten die Impfungen aber oft etwas später. Zehn Millionen Impfdosen davon sollen laut Spahn bis Ende Juli geliefert sein.

Insgesamt haben die Impfstellen mittlerweile insgesamt mehr als 35 Millionen Impfdosen gegen Corona verabreicht - etwas weniger als 27,3 Millionen bei Erstimpfungen und weitere gut 7,8 Millionen bei Zweitimpfungen. 32,8 Prozent der Menschen haben mindestens eine Impfung erhalten. Den vollen Impfschutz erhielten demnach bislang 9,4 Prozent der Bevölkerung. Die höchste Quote an mindestens Erstgeimpften hat das Saarland mit 36,9 Prozent. Brandenburg und Sachsen liegen mit 28,8 Prozent hinten.

Nach einem Bericht von der SWR-Sendung "Report Mainz" sind hunderte Fälle bekannt, bei denen sich Menschen etwa mit falschen Alters- oder Berufsangaben beim Impfen vordrängeln wollten.

RISIKEN VON JOHNSON & JOHNSON:

Im Beschluss der Gesundheitsministerkonferenz heißt es, sie nehme "die berichteten Fälle von Hirnvenenthrombosen im Zusammenhang mit einer Impfung mit dem Impfstoff von Johnson & Johnson" ernst. In den USA waren die Impfungen mit dem Präparat zeitweise ausgesetzt. Nach einer Überprüfung von Sicherheitsdaten kamen die dortigen Behörden dann aber zu dem Schluss, dass die bekannten und potenziellen Vorteile die Risiken überwiegen. Ähnliche Nebenwirkungen - spezielle Blutgerinnsel verbunden mit einem Mangel an Blutplättchen - gab es bei dem anderen verfügbaren Vektorimpfstoff von Astrazeneca.

Beim Impfstoff von Johnson & Johnson treten sie laut der US-Gesundheitsbehörde CDC mit einer Rate von ungefähr sieben pro eine Million geimpfter Frauen zwischen 18 und 49 Jahren auf. "Bei Frauen ab 50 Jahren und Männern jeden Alters ist dieses unerwünschte Ereignis noch seltener." Anhand der bisher verfügbaren Daten sähen Experten keine Anhaltspunkte, dass Frauen, die hormonale Verhütungsmittel wie die Pille nutzen, gefährdeter sein könnten.

In Deutschland gibt es bisher keine Meldungen zu Komplikationen wegen Johnson & Johnson, wie eine PEI-Sprecherin sagte. Die Nebenwirkung tritt meist in den ersten drei Wochen nach der Impfung auf. Laut einschlägigem PEI-Bericht konnten für die Entstehung bislang keine spezifischen Risikofaktoren gefunden werden. Wie die Stiko in Deutschland eine altersabhängige Empfehlung für beide Geschlechter begründet, war zunächst nicht bekannt.

Auch den Impfstoff von Astrazeneca hatte die Stiko generell Menschen ab 60 Jahren empfohlen. Auch in dem Fall waren vor allem jüngere Frauen von den Nebenwirkungen betroffen. Die Stiko verwies allerdings darauf, dass in der Anfangsphase wesentlich mehr Frauen als Männer mit Astrazeneca geimpft wurden. Von einem ausgeprägten Risiko in Abhängigkeit vom Geschlecht scheint die Stiko nicht auszugehen. Und in der Altersgruppe der unter 60-Jährigen ist laut Stiko zunächst das Covid-19-Sterberisiko geringer - und wiegt deshalb das Risiko für die spezielle schwere Impfnebenwirkung nicht auf. Schließlich stehen andere Impfstoffe zur Verfügung. Im Fall von Impfschäden greift laut Gesetz das soziale Entschädigungsrecht - Geschädigte können auf Geld vom Staat hoffen.

IMPFUNGEN VON WOHNUNGSLOSEN UND FLÜCHTLINGEN:

Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe nannte die Empfehlung, das Vakzin von Johnson & Johnson an Über-60-Jährige zu impfen, "bitter". "Die nicht sehr hohe Impfquote bei Wohnungslosen ist auch darauf zurückzuführen, dass in vielen Kommunen auf den Impfstoff von Johnson & Johnson gewartet wurde", sagte Geschäftsführerin Werena Rosenke der Deutschen Presse-Agentur. Gerade Wohnungslose hätten oft Vorerkrankungen und sollten so schnell wie möglich geimpft werden. Thüringens Gesundheitsministerin Heike Werner (Linke) sagte, für Gemeinschaftsunterkünfte für Flüchtlinge werde nun überlegt, dort die Impfstoffe von Biontech /Pfizer oder Moderna einzusetzen und die Zeit bis zur Zweitimpfung zu verkürzen.

Der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetages, Helmut Dedy, sagte der dpa: "Die Städte brauchen den Impfstoff von Johnson & Johnson besonders für die Menschen, die schwer erreichbar sind, weil sie keinen festen Wohnsitz haben oder in prekären sozialen Verhältnissen leben." Da er nach ärztlicher Aufklärung eingeschränkt verimpft werden könne, könne er weiter ein wichtiger Baustein sein. In den Stadtteilen zögen alle beim Impfen an einem Strang: Streetworker, Stadtteil- und Schulsozialarbeiter, Kitas und Jugendeinrichtungen, Migrantenselbstorganisationen, Integrations- und Kulturvermittler./bw/ggr/DP/jha

Quelle: dpa-Afx