Wann war für Sie klar, dass Sie Volkswirt werden würden?
Ursprünglich wollte ich Journalist werden. Neben Schule und Studium habe ich für Lokalredaktionen in Siegen und Bonn sowie für die Wirtschaftsredaktion der Deutschen Welle gearbeitet. Aber während meines Studiums in Bonn und Münster habe ich die Volkswirtschaftslehre immer mehr lieben gelernt. Irgendwann im Hauptstudium wurde mir klar, dass ich später als Volkswirt arbeiten wollte.
Was war es, das Sie schon damals so an der Volkswirtschaft begeistert hat?
Mich fasziniert an der Volkswirtschaftslehre der Dreiklang aus Theorie, Empirie und Politik. Die Basis der Volkswirtschaftslehre ist die Theorie, also Modelle, um etwa Konjunktur oder Inflation zu erklären. Das Arbeiten mit Daten und Statistik ist wichtig, weil ein Volkswirt überprüfen muss, ob seine theoretischen Modelle in der Realität funktionieren. Außerdem braucht er ein tiefes Verständnis für Politik, die ja für die Unternehmen und Konsumenten den Rahmen setzt. Die Volkswirtschaftslehre ist facettenreich.
Gibt es auch etwas, das Sie an der Branche gerne ändern würden?
Die Volkswirtschaftslehre hat ein hohes theoretisches und empirisches Niveau erreicht. Aber einige der jüngeren Volkswirte vergessen über das empirische Arbeiten die Theorie und haben teilweise naive Vorstellungen von der Arbeitsweise der Politik. Ich wünsche mir ein ausgewogeneres Verhältnis von Theorie und Empirie und die Einsicht, dass eine Volkswirtschaft keine Maschine ist, die die Politik nach ihren Vorstellungen steuern kann.
Wenn es nicht die Volkswirtschaft geworden wäre, welche Karriere hätten Sie sich alternativ vorstellen können?
Journalismus finde ich nach wie vor spannend. Wenn ich besser zeichnen könnte, wäre auch Architektur etwas für mich gewesen. Ich bewundere Menschen, die es verstehen, zeitlos schöne Häuser zu bauen.
Bevor Sie 2006 bei der Commerzbank eingestiegen sind, waren Sie für das Kieler Institut für Weltwirtschaft, Merrill Lynch, Invesco Asset Management und die HVB tätig. Was ist die wichtigste Lehre, die Sie aus Ihrer beruflichen Laufbahn gezogen haben?
Das Wichtigste ist, seinen Beruf mit Leidenschaft auszuüben - das sage ich auch meinen Kindern. Wer mit Leidenschaft bei der Sache ist, kann seinen Kunden viel mehr geben - und sie danken es mit Anerkennung. Ganz nebenbei hilft das auch der Karriere.
Heute sind Sie Chefvolkswirt und Bereichsvorstand Research bei der Commerzbank. Wie sieht ein typischer Tag in diesem Beruf aus?
Morgens um acht Uhr geht es mit den Morning Meetings für den Vertrieb los. Danach bespreche ich mit den Volkswirten und Strategen, was den Kunden unter den Nägeln brennt und wie wir ihre Fragen am besten beantworten können. Ich treffe auch häufig Kunden - während der Pandemie vor allem per Video-Schalte, ansonsten bei ihnen in den Büros oder auf Abend-Veranstaltungen an unseren Standorten im In- und Ausland. Dazwischen gibt es immer wieder Gespräche und Interviews mit Medien. Die freie Zeit dazwischen nutze ich zum Lesen und Schreiben. Meine Neugierde für volkswirtschaftliche Fragen ist ungebrochen.
Sie sind beruflich sehr eingespannt. Wo finden Sie den Ausgleich zur Arbeit?
Meine Frau und ich haben rund ums Haus einen schönen Garten. Um den kümmern wir uns an den Samstagen. Wir freuen uns, wenn alles wächst und blüht. Ich liebe Gartenarbeit.
Während Ihres Studiums sind Sie der Studentenverbindung Alania in Bonn beigetreten. Was konnten Sie aus dieser Zeit mitnehmen und sind Sie der Gemeinschaft bis heute verbunden?
Ich bin seit 1987 Mitglied meiner katholischen Verbindung, die übrigens nicht-schlagend ist. Meine Frau und ich besuchen regelmäßig Veranstaltungen und Feiern. Es ist schön, immer wieder an den Ort des Studiums zurückzukehren und über all die Jahren Kontakt zu den Bundesbrüdern zu pflegen.
Ihr Doktorvater war Prof. Dr. Horst Siebert, damaliger Präsident des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel. Inwiefern hat Sie diese Zeit geprägt?
Ich habe vier Jahre in der Konjunkturabteilung des Instituts für Weltwirtschaft gearbeitet. Ich hatte wunderbare Kollegen, die mir jungen unerfahrenen Volkswirt das wissenschaftliche Handwerkszeug beigebracht haben. Genossen habe ich auch die kreative, zutiefst liberale Atmosphäre, die Professor Horst Siebert am Institut gepflegt hat. Die Zeit in Kiel hat mich geprägt; davon profitiere ich noch immer.
Worüber haben Sie Ihre Doktorarbeit geschrieben?
Es ging um alternative Methoden, um Geldmengenaggregate zu konstruieren, mit denen man auf die lange Sicht etwas über die Inflation sagen kann. Ich habe damals viel empirisch gearbeitet.
Nicht selten orientieren sich Kinder an den Berufen ihrer Eltern. Haben Ihre Söhne einen ähnlichen beruflichen Weg eingeschlagen, oder haben sie sich für eine andere Karriere entschieden?
Sie interessieren sich auch für Wirtschaft, haben aber eine andere Richtung eingeschlagen. Beispielsweise hat mein ältester Sohn bei einer Unternehmensberatung für Digitalisierung angefangen - das ist ein spannendes Thema.
Welchen Rat - sei es beruflich oder privat - würden Sie Ihrem 18-jährigen Ich aus der heutigen Perspektive geben?
Höre auf Deine innere Stimme und gehe den Weg, der zu Dir passt.
Wenn Sie einen Tag lang alle beruflichen Verpflichtungen vergessen könnten, wie würden Sie diese Zeit verbringen?
Da fällt mir viel ein. Schlummern unter dem Baum in meinem Garten. Oder zusammen mit Freunden wandern. Maßvolles Joggen tut auch gut.
Wenn es die Umstände rund um die Corona-Pandemie wieder zulassen: Wohin werden Sie als erstes reisen?
Ich würde gerne wieder an die See reisen - auf die ostfriesischen Inseln oder an die Ostsee. Die Seeluft, die Stände und die entspannte Atmosphäre dort tun einfach gut.
Welche Menschen aus Ihrem Leben haben Sie am meisten inspiriert?
Ich möchte keine Namen nennen. Aber ich hatte immer wieder das Glück, auf Menschen zu treffen, die mir ehrliches Feedback und wichtige Anregungen gegeben haben. Auch die Kollegen im Research sind für mich sehr wichtig. Ohne den Austausch mit ihnen könnte ich meinen Job nicht machen.
Über Dr. Jörg Krämer
Nach seinem Studium der Volkswirtschaftslehre in Bonn und Mainz trat Jörg Krämer in die Konjunkturabteilung des Kieler Instituts für Weltwirtschaft ein und promovierte dort. Später arbeitete er für Merrill Lynch, Invesco Asset Management und die HVB. Heute ist Dr. Jörg Krämer Chefvolkswirt und Bereichsvorstand Research bei der Commerzbank.