Für die Altersvorsorge erschwerend kommt die Nibelungentreue deutscher Sparer zum Zinsvermögen hinzu, die trotz Aussicht auf sichere Zins-Armut unkaputtbar ist. Knapp 80 Prozent der Bundesbürger halten ihr Geld immer noch in Sparbüchern, Festgeldern und Staatsanleihen. Leider müssen sich ebenso die betrieblichen und privaten Zusatzversicherungen - absurderweise auch die Versorgungswerke der Finanzprofis - aufgrund regulatorischer Vorgaben üppig in Anleihen suhlen.
Theoretische Sicherheit von Zinsvermögen im Praxistest
Als Killerargument muss immer das Scheinargument herhalten, dass es sich vor allem bei Staatspapieren um sichere Anlagen handelt. Immerhin wird sogar in der modernen Portfoliotheorie ein risikofreier Zins unterstellt, der das Ausfallrisiko einfach so per Definition ausschließt. Aber will man auf Sicht der vielen nächsten Ansparjahre wirklich die Anleger-Hände dafür ins Feuer legen, dass überschuldete Staaten sowie ihre Papiere heilige Kühe wie in Indien sind? In der Finanzgeschichte gab es diesen Status noch nie. Das theoretisch unverwüstliche Zinsvermögen wurde praktisch immer und immer wieder durch unzählige Staatsbankrotte geschlachtet. Mit welcher Berechtigung gehen wir davon aus, dass diese Regel gebrochen wird, dass es zukünftig Überlebende gibt. Weiter steigende Staatsschulden werden uns auch morgen und übermorgen noch verfolgen wie der Mond die Erde.
Erhalten die Zinssparer wenigstens eine Risikoentschädigung durch vernünftige Zinsen? Ja, und die Erde ist eine Scheibe. Ordentliche Renditen für die Mehrzahl eurozonaler Staatspapiere und Risikoaufschläge wegen blutleerer Bonität sind ausgestorben wie Dinosaurier. Damit weilt ebenfalls der Zinseszinseffekt nicht mehr unter den Lebenden. Nimmt man schließlich noch die Inflation hinzu, hat man mit Staatspapieren zwar Sicherheit, aber leider nur die Sicherheit, dass die Vermögenssubstanz im Alter ähnlich aufgefressen wird wie Fleisch im Napf eines Hundes. Altersvorsorge auf Basis von Zinsvermögen verhindert nicht Altersarmut, sie verursacht sie.
Und Schuld an der Endzeitstimmung der Sparer hat nur die EZB?
Und was tut die deutsche Politik als gewählter Rächer der zinsseitig Enterbten? Der schwarze Zins-Peter wird Mario Draghis EZB zugeschoben. Ja tatsächlich, ihre Geldpolitik ist für Anleger ähnlich schlimm wie für Angela Merkel ein gemeinsamer Urlaub mit Donald Trump. Der zinspolitische Anlagenotstand ist jedoch eine alternativlose Folge der europäischen Finanzkrise, die wiederum eine Folge der verheerenden Wirtschaftspolitik der Euro-Staaten ist. Denn Strukturreformen werden von Politikern gemieden wie Wasser von Katzen. Selbst Deutschland bekommt heutzutage keinen Reform-Oscar mehr, sondern die Goldene Himbeere. Wer will schon abgewählt werden wie einst Gerhard Schröder? Und da die Regierungen ihre Volkswirtschaften krank werden lassen, ist die Intensivstation der EZB gezwungen, die Euro-Konjunktur mit viel und billigem Geld künstlich in eine stabile Seitenlage zu bringen. Nicht die helfende Geldpolitik, sondern die hilflose Politik enteignet die Sparer.
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Politiker bestimmen über die gesetzliche Rente, von der sie persönlich nicht betroffen sind
Da hilft es auch nicht, die gesetzliche Rente zum reinen Versuchskarnickel zu machen. Es wird einerseits gefordert, die Bürger sollten immer später in Rente gehen. Aber wie sollen Handwerker oder das Personal in Pflegeheimen dies schaffen? Andererseits soll die Rente nicht unter bestimmte Niveaus fallen. Doch kann man Rentenversicherungsbeiträge nicht beliebig steigern, um Kaufkraft und insbesondere Arbeitskosten zu schonen.
Die Politik kann sich drehen und wenden wie der Schwiegersohn vor dem Besuch seiner Schwiegermutter. Aber es hilft nichts: Sie muss das heiße Eisen Altersarmut anpacken. Ist das nicht ohnehin die Aufgabe großer Koalitionen? Wenn sie es nicht schaffen, wer dann? Aber welches Interesse hat unsere Polit-Elite an Reformen der gesetzlichen Rente, mit der sie selbst nichts am Hut haben?
Weg mit den alten Zöpfen in der Alters(vor)sorge
Die Liebe der Bundesbürger zu Zinsanlagen muss gestutzt werden wie das Fell des Pudels im Hundesalon. Es geht um die Begrenzung von Wohlstandsverlusten im Alter. In die Altersvorsorge gehört mehr Sachkapital. Die eigengenutzte Immobilie ist sicher wichtig. Aber auch Aktien gehören unbedingt dazu. Natürlich sind Aktien mit Risiken behaftet. Aktienschwankungen hat es immer gegeben und wird es auch zukünftig geben. Schaut man sich jedoch die großen Aktieneinbrüche der Vergangenheit an, stellt man drei Dinge fest. Erstens waren selbst die dicksten "schwarzen Schwäne" wie der Zusammenbruch der Dotcom-Bubble ab 2000 und das Platzen der Immobilienblase 2008 kein nachhaltiger Beinbruch. Selbst die größten Kursverluste wurden ausnahmslos nicht nur wettgemacht, sondern deutlich überkompensiert. Zweitens wurde die Dauer und drittens die Intensität von Kurseinbrüchen immer geringer.
Und genau diese dreifaltigen Argumente machen Aktiensparpläne so attraktiv, dass Vater Staat diese im Sinne der Alterssicherung fördern muss. Wie beim Energie-Tonikum "Doppelherz" muss die Kraft der zwei Herzen genutzt werden. Bei sinkenden Kursen erhält man für seinen gleichbleibenden Sparanteil mehr Aktienanteile, die dann zweitens bei Börsenerholung das Aktienvermögen anheben wie die Flut ein Schiff.
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Aktiensparpläne ebenso banal wie genial!
Zur Risikobegrenzung dieser regelmäßigen Aktien-Altersvorsorge soll der Staat Vorkehrungen treffen: Der Anlagefokus liegt schwerpunktmäßig auf Aktien-Fonds bzw. Aktien-ETF‘s aus dem Euro-Raum, um Währungsverluste zu verhindern. Diese sollten am besten auf den großen Leitindices basieren, um das Einzeltitelrisiko zu mildern und vor allem regelmäßig erfolgen, um das Verlustrisiko größerer Einmalanlagen zu umgehen. Bei der Aktienauswahl sollte es zudem um Titel gehen, die ein langfristig stabiles Geschäftsmodell haben. Unternehmen, die sich um Essen, Trinken, Wohnen, zum Arzt gehen, Mobilität oder Kommunikation kümmern, erfüllen menschliche Grundbedürfnisse, die man nicht ignorieren kann.
Diese Titel bieten daneben typischerweise hohe Dividenden, die im Ansparzeitraum die verloren gegangene Sinnlichkeit des Zinseszinseffekts durch den Wiederanlageeffekt von Ausschüttungen ersetzen. Dividendenstarke Aktien sind im Übrigen auch weniger anfällig für Kursverluste.
Der Staat sollte konkrete Vermögensbildungsfonds auf Aktien anbieten, um den individuellen Anlageaufwand zu reduzieren. Da Kursverluste bei zunehmendem Aktienvermögen in immer größerem Ausmaß negativ zu Buche schlagen, sollten mit sich näherndem Rentenbeginn das Aktienrisiko heruntergefahren und Kursgewinne durch Verkäufe immer mehr realisiert werden. Hierbei sind Aktiensparpläne ähnlich zu behandeln wie regelmäßige Anlagen in guten Wein. Zum Ende der Auffüllphase geht man in den Weinkeller und fängt an, die Flaschen von unten zu ziehen, um zu genießen.
Altersvorsorge aus dem Steuerbrutto aufbauen
Zwar praktizieren schon viele Bundesbürger das regelmäßige Aktiensparen. Doch jetzt geht es um breite Bevölkerungsgruppen und natürlich um die Jugend. Im Durchschnitt gibt jeder deutsche Haushalt mehr Geld für Südfrüchte als für Aktien aus. An die muss man herankommen. Es geht um einen nachhaltigen volkskapitalistischen Vermögensaufbau.
Da die o.g. Vorteile des Aktiensparens offenbar noch nicht überzeugend genug sind, muss der Staat nachhelfen gemäß dem Motto "Und bist Du nicht anspar-willig, so brauche ich steuerliche Gewalt": Einen ordentlichen monatlichen Betrag sollten die Deutschen aus ihrem Steuerbrutto in Aktien ansparen können. Das angesparte Vermögen sollte ebenso bei seinem späteren Verzehr steuerfrei bleiben. Die Bedingung dazu ist, möglichst über Jahrzehnte anzusparen und die Ansparleistung nicht anzutasten, wobei Ausstiegsoptionen für die Härten des Lebens möglich sein müssen. Den staatlichen Einnahmeverlust aufgrund der steuerlichen Aktien-Förderung sollte die Politik gerne in Kauf nehmen. Denn damit wirkt sie der späteren Zahlung von massenhafter Sozialhilfe entgegen.
Es geht um keine politische Liebesbeziehung zu Aktien, aber eine Zweckehe wäre vernünftig
Für die Bundesregierung wäre diese freiwillige, aktienlastige "Rentenpolitik" zwar eine Revolution. Aber basieren auf unseren börsennotierten deutschen Aktiengesellschaften nicht auch jede Menge volkswirtschaftlicher Wohlstand und sichere Arbeitsplätze? Sind unsere Politiker nicht zu Recht stolz auf unsere deutschen Industrieperlen? Was ist aber dann so falsch daran, an diesem zweifelsfrei substanzstarken Produktivvermögen auch das breite Publikum in puncto Alterssicherung zu beteiligen?
Für eine kritiklose Zuneigung der Politik zu Staatspapieren bzw. -vermögen einerseits und eine überkritische "Bah pfui"-Haltung gegenüber börsennotierten Unternehmen andererseits fehlen ohnehin nachvollziehbare Gründe. Man sollte nicht mit zweierlei Maß messen. Im Gegensatz zu Staatspapieren haben Daimler oder Siemens zwei Weltkriege überstanden.
Die Umsetzung dieser Altersvorsorgereformen ist politisch gewiss nicht einfach. Aber wenn man nicht bereit ist, für seine Bürger Verantwortung zu übernehmen und die Kastanien aus dem Feuer zu holen, muss man sich eine andere Beschäftigung suchen. Niemand wurde gezwungen, Politikerin oder Politiker zu werden. Zur Entschärfung der tickenden Zeitbombe "Altersarmut" sind jede Anstrengung und das Ablegen vielfach dümmlicher ideologischer Argumente dringend geboten.
Die Grundsätze, meine Pension ist im Gegensatz zur gesetzlichen Rente sicher und "Nach mir die Sintflut" sind bei der Bekämpfung von Altersarmut politisch unanständig!
Rechtliche Hinweise / Disclaimer und Grundsätze zum Umgang mit Interessenkonflikten der Baader Bank AG: https://www.bondboard.de/main/pages/index/p/128
Robert Halver leitet die Kapitalmarktanalyse bei der Baader Bank.