Amancio Ortega Gaona wurde 1936
in Busdongo de Arbas, einem
60-Seelen-Dorf im Norden Spaniens,
als jüngstes von vier Kindern
geboren. Später zog die Familie nach La
Coruña in der von Fischerei und Landwirtschaft
geprägten Provinz Galicien. Es
waren schwierige Zeiten. Der spanische
Bürgerkrieg hatte begonnen, Amancios
Mutter besserte das karge Gehalt des Vaters
mit einem Job als Dienstmädchen auf.
Schon möglich, dass der kleine Amancio
Bahnarbeiter geworden wäre. Wie sein
Vater. Aber ein demütigendes Erlebnis veränderte
sein Leben. Er war damals zwölf
Jahre alt und ging mit seiner Mutter in
einen Krämerladen, um einzukaufen. Die
Mutter hatte kein Geld mehr und bat den
Ladenbesitzer um Kredit. Der Besitzer antwortete:
"Señora, ich kann ihnen das nicht
geben, Sie müssen bezahlen." Amancio
schwor sich damals: "Das soll meiner Mutter
nie wieder passieren!" Er verließ die
Schule und begann als Laufbursche für den
Hemdenmacher Gala zu arbeiten.
"Die Armut hat aus ihm gemacht, was er
heute ist", sagt Xabier Blanco, der eine Biografie
über Ortega geschrieben hat. Anfang
der 60er-Jahre wurde Ortega Leiter eines
kleinen Bekleidungsladens. Um das Angebot
auch für die weniger Betuchten zu öffnen,
ließ er Designerstücke kopieren und
günstiger produzieren. Das kam an bei seinen
Kunden. Mit dem Gewinn seines Ladens
und einem Kredit über 2500 Peseten
gründete er 1963 mit 27 Jahren sein erstes
Unternehmen. Er nannte es GOA (seine Initialen
rückwärts gelesen) und stellte Bademäntel
und wattierte Jacken her.
Galicien war der ideale Standort. Es gab
kaum Arbeit, die Männer waren im Fischfang
beschäftigt, während ihre Frauen zu
Hause kaum genug Geld zum Überleben
hatten. Aber diese Frauen waren sehr gute
Näherinnen, und Ortega organisierte Tausende
von ihnen in Kooperativen, in denen
seine Bademäntel produziert wurden.
1972 gründete er die erste Kleiderfabrik,
und drei Jahre später weihte er in der Innenstadt
von La Coruña das erste Geschäft
ein, dessen Name heute für seinen größten
Erfolg steht: Zara. Das Geschäft liegt zwei
Blocks entfernt vom Hemdenladen Gala,
wo er einst Hemden zusammenfaltete und
an die Kunden austrug.
Jetzt begann für Ortega eine beispiellose
Erfolgsgeschichte. Innerhalb von fünf Jahren war Zara in allen spanischen Städten
vertreten. 1985 wurde das Unternehmen um
Marken wie Mango, Massimo Dutti und Pull
& Bear erweitert und unter der Neugründung
der Inditex-Holding wiedervereint.
Fünf Jahre später der Schritt zum multinationalen
Unternehmen: Filialen in Portugal,
1989 dann in New York, 1990 in Paris,
2006 in China.
Heute gibt es Zara-Filialen in Europa,
Nord- und Südamerika, Asien, Australien,
dem Nahen Osten, Afrika. Mehr als 110 000
Mitarbeiter arbeiten für Ortega. Inditex
meldete zuletzt einen Jahresumsatz von
13,8 Milliarden Euro. An der Börse ist der
größte Bekleidungskonzern der Welt 63 Milliarden
Euro wert.
Die schnellste Modemarke der Welt
Die wichtigste Komponente von Ortegas
Erfolg ist Geschwindigkeit. Bei Zara gibt es
von jeder Kollektion nur relativ kleine
Stückzahlen, weil große Teile der Mode
zweimal die Woche ausgewechselt werden.
Täglich schicken alle Filialen ihre Verkaufszahlen
in die Zentrale. Was sich nicht verkauft,
wird ausgemustert. Innerhalb weniger
Wochen kann Zara ganze Kollektionen
ändern - so schnell wie kein anderes Unternehmen
in der Modebranche.
Das Zentrum des Modeimperiums ist das
Produktions- und Verteilzentrum in La
Coruña. Es ist über 100 000 Quadratmeter
groß, hier werden Kleider aus aller Welt angeliefert
und an die Filialen weiterverteilt.
Hunderte von Designern und Verkaufsanalysten
arbeiten an langen Tischen in einem
riesigen Großraumbüro. 10 000 neue Designs
werden jedes Jahr entworfen. Ideen
für neue Kreationen werden von Trendspottern
vorgeschlagen, die sich ihre Inspirationen
auf der Straße, in Klubs, Restaurants
und Bars weltweit holen. "Wir gehen nie
auf Modeschauen", sagt Loreta García, die
die Trendabteilung von Zara Woman leitet.
"Wir verfolgen Blogs und befragen die Kunden,
aber wir ändern ständig unsere Meinung.
Was heute wie eine tolle Idee aussieht,
kann in zwei Wochen schon völlig
überholt sein."
Man sagt Ortega nach, dass er besessen
sei vom Erspüren neuer Trends. In
La Coruña erzählt man sich folgende Geschichte: Ein Motorrad
hielt an einer Ampel neben einem
schwarzen Audi A8, dessen Passagier, ein
älterer Herr, neugierig den jungen Motorradfahrer
musterte. Dieser trug eine Jeansweste,
die mit bunten Aufnähern geschmückt
war. Der ältere Herr griff zu seinem
Handy und rief seinen Assistenten an.
Er beschrieb ihm die Nähte, die Aufnäher,
die Form und die Farbe der Weste und wies
den Assistenten an: "Háced-la"! Stellt sie
her! Als die Ampel auf Grün schaltete,
brauste der Biker davon - nicht ahnend,
dass er in einer der größten Modeerfolgsstorys
eine Rolle gespielt hatte. Und dass
der Mann in dem Audi, 58 Milliarden Dollar
schwer, der drittreichste Mann der Welt
war: Zara-Chef Ortega.
Bekannt ist auch, dass Ortega nie ein eigenes
Büro hatte. Noch heute sitzt der Multimilliardär
an einem Pult im offenen Arbeitsbereich
von Zara in der Produktionsstätte
von La Coruña. Privat lebt er zurückgezogen
in einem unspektakulären fünfstöckigen
Wohnhaus am Rande einer belebten Geschäftsstraße
in La Coruña. Er gibt keine Interviews,
macht keine Fototermine, meidet
öffentliche Auftritte. Die seltenen Fotos von ihm zeigen einen rundlichen Mann, der meist einen blauen Blazer, Jeans und ein Poloshirt trägt. Sein Lieblingsessen,
das er gern mit Angestellten in der
Inditex-Cafeteria zu sich nimmt: Spiegeleier
mit Pommes und Chorizo-Wurst. Am Wochenende
zieht er sich in sein Landhaus zurück,
wo er Hühner und Ziegen züchtet.
Seine Wurzeln hat er nicht vergessen. Als
er einmal in Manhattan während der Eröffnung
eines Shops die Menschen beobachtete,
die durch den Eingang strömten, war
er so überwältigt, dass er sich in der Toilette
einschloss und weinte. Seinem Biografen
sagte er: "Ich musste an meine Eltern
denken. Wie stolz sie jetzt auf ihren Sohn
wären."
PEB