Fast 45 Millionen Bürger sind hierzulande erwerbstätig. Die konjunkturelle Eintrübung sorgt für mehr Konflikte am Arbeitsplatz. Aktuelle Entscheidungen und rechtliche Klarstellungen im Überblick. Von Stefan Rullkötter, Euro am Sonntag
Der Wirtschaftsboom der vergangenen Jahre hat in Deutschland für immer neue Beschäftigungsrekorde gesorgt. Fast 45 Millionen Bürger sind erwerbstätig - so viele wie nie seit der Wiedervereinigung 1990. Mit der zunehmenden Zahl der Jobs steigt aber auch das Konfliktpotenzial zwischen Arbeitgebern und Beschäftigten. Weiter verschärft wird es nun durch die sich abkühlende Konjunktur. Die Folgen bekommen zuerst beschäftigungsintensive Branchen wie die Automobilindustrie zu spüren. Falsche Vorstellungen über Abmahnungs- und Kündigungsgründe sowie Abfindungs- und Urlaubsansprüche sind dabei weit verbreitet. Neue wichtige Urteile von Arbeitsgerichten und rechtliche Klarstellungen im Überblick.
Urteile Pro Arbeitnehmer:
1. Resturlaub kann nicht einfach verfallen. Arbeitgeber müssen ihre Beschäftigten künftig auffordern, noch nicht beantragten Urlaub zu nehmen und darauf hinweisen, dass er sonst verfällt. Das hat das Bundesarbeitsgericht entschieden (Az. 9 AZR 541/15) und so EU-Recht in deutsches Recht integriert.
2. Bislang war es für Arbeitnehmer schwer, Ansprüche für geleistete Überstunden durchzusetzen. Diese müssen vergütet werden, wenn dies im Rahmen der Arbeitszeit (maximal 48 Wochenstunden) vereinbart ist oder der Mitarbeiter eine "berechtigte Vergütungserwartung" hat. In Arbeitsverträgen sind dafür häufig "Pauschalabgeltungen" vorgesehen. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) urteilte nun, dass die Beweisführung bei elektronisch erfassten Arbeitszeiten erleichtert ist (Az. 5 AZR 452/18).
3. Das BAG hat zudem entschieden, dass Arbeitgeber, die Mitarbeiter einer anderen Firma überlassen (Leiharbeit), vom Grundsatz der Gleichstellung (Equal-Pay) nur dann abweichen dürfen, wenn für den Entleihzeitraum der Tarifvertrag, auf den Bezug genommen wird, vollständig und nicht nur teilweise anwendbar ist (Az. 4 AZR 66/18).
4. Bei Verkauf und Fusion von Unternehmen oder Unternehmensteilen sind Arbeitnehmer künftig besser gestellt. Betriebsrenten dürfen nicht automatisch abgesenkt werden. Selbst mit Betriebsvereinbarungen von Betriebsrat und Arbeitgeber zur Altersversorgung seien Betriebsrentenanwartschaften nur in engem Spielraum veränderbar, entschied das BAG (Az. 3 AZR 429/18).
5. Schließlich müssen sich Arbeitgeber bei Kündigungen von Arbeitsverhältnissen penibel an die vorgeschriebene Schriftform halten. Erforderlich ist eine eigenhändige Unterschrift, E-Mail oder Fax genügen dafür nicht. Auch ein langer Strich nach rechts oder ein Haken reicht als Unterschrift auf Papier nach Ansicht des BAG nicht aus. Notwendig sei ein individueller Schriftzug, der sich - ohne lesbar sein zu müssen - als eine Wiedergabe eines Namens darstelle und die "Absicht einer vollen Unterschriftsleistung" erkennen lasse (Az. 5 AZR 849/13).
Urteile pro Arbeitgeber:
1. Arbeitnehmer, die wegen einer Altersteilzeitvereinbarung nicht mehr arbeiten, haben in dieser passiven Phase keinen Anspruch mehr auf Urlaub. Der Arbeitgeber muss in einer solchen Freistellungsphase daher auch keinen finanziellen Ausgleich für nicht genommenen Urlaub zahlen, so das Bundesarbeitsgericht (Az. 9 AZR 481/18).
2. Ist im Arbeitsvertrag eine regelmäßige Überprüfung freiwilliger Arbeitgeberleistungen, etwa die Höhe von Urlaubs- und Weihnachtsgeld, allgemein festgeschrieben, begründet diese Regelung grundsätzlich keine Verpflichtung des Arbeitgebers, die Bemessungsobergrenze anzupassen (Az. 10 AZR 341/18).
3. Gehen eine Baufirma und der dazugehörige Generalunternehmer pleite, können Beschäftigte ausstehende Löhne nicht vom Bauherrn einfordern. Dieser könne nicht haftbar gemacht werden, weil er nicht der Bürgenhaftung im Sinne des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes unterliege, urteilte das Bundesarbeitsgericht (Az. 5 AZR 241/18).
4. Eine Sparkasse darf eine Kassiererin fristlos kündigen, die in erster Instanz wegen Untreue zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Das entschied kürzlich das BAG. Im konkreten Fall ging es um einen Geldkoffer der Bundesbank mit vermeintlich 115.000 Euro Bargeld. Die Angestellte hatte gegenüber ihrem Arbeitgeber angegeben, sie habe in der verplombten Schatulle lediglich Waschpulver und Babynahrung vorgefunden. Sie bestritt, das Geld entnommen zu haben. Die Sparkasse glaubte ihr nicht und setzte sie 2016 vor die Tür.
5. Die Herabwürdigung eines Mitarbeiters wegen seiner ostdeutschen Herkunft ist keine Benachteiligung nach dem Gleichbehandlungsgesetz, urteilte das Arbeitsgericht Berlin (Az. 44 Ca 8580/18). Erfolglos geklagt hat ein stellvertretender Ressortleiter eines Zeitungsverlags, der von seinem Arbeitgeber 800.000 Euro Entschädigung wegen "ethnischer Stigmatisierung durch Kollegen" gefordert hatte.
Verbreitete Rechtsirrtümer:
1. Unternehmer können einen Betrieb auch dann schließen, wenn jahrelang gute Gewinne erzielt wurden und die Schließung - wirtschaftlich betrachtet - nicht sinnvoll ist. Eine solche Unternehmerentscheidung, die Grundlage einer betriebsbedingten Kündigung ist, kann durch Arbeitsgerichte lediglich sehr eingeschränkt überprüft werden.
2. Arbeitgeber dürfen Beschäftigungsverhältnisse auch ohne Zahlung einer Abfindung beenden. Viele betroffene Arbeitnehmer glauben aber, ihnen stehe beim Ausscheiden aus dem Betrieb in jedem Fall eine Abfindung in Höhe von 0,5 Bruttomonatsgehältern pro Jahr der Betriebszugehörigkeit zu. Der maßgebliche Paragraf 1a des Kündigungsschutzgesetzes beschreibt nur die Folgen für den Fall, dass der Arbeitgeber ein solches Angebot unterbreitet.
3. Wer als Beschäftigter nachweislich dauerhaft arbeitsunfähig ist, kann dennoch gekündigt werden. Eine voraussichtliche Genesungsdauer von mehr als zwei Jahren kann eine krankheitsbedingte Kündigung rechtfertigen.
4. Eine Erreichbarkeit während des Urlaubs ist arbeitsrechtlich nicht geschuldet. Sind feste Arbeitszeiten fix vereinbart, gilt dieser Grundsatz auch für die Freizeit außerhalb der Urlaubszeiten.
5. Stirbt ein Arbeitnehmer, können dessen Erben vom Arbeitgeber die Auszahlung bestehender Urlaubsabgeltungsansprüche einfordern. Das BAG entschied, dass entsprechende Ansprüche eines Arbeitnehmers nicht mit seinem Tod verfallen (Az. 9 AZR 45/16).