Aus Angst vor einer Wirtschaftskrise auf der Insel und einer Abkühlung der weltweiten Konjunktur rauschten die europäischen Aktienindizes teilweise mehr als zehn Prozent in die Tiefe. Pfund Sterling und Euro fielen so stark ab wie noch nie. "Die Entscheidung für einen Ausstieg aus der EU stürzt Europa in eine existenzielle Krise", sagte Nick Parsons, Co-Chefstratege der Nationals Australia Bank. Matt Sherwood, Chef-Anlagestratege des Fondsmanagers Perpetual, warnte: "Großbritannien wird in die Rezession rutschen und Europa wird folgen."

Nach Einschätzung von Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer wird es aber nicht so weit kommen. "Das gilt erst recht für den Fall, dass sich eine saubere Scheidung abzeichnet." In den kommenden beiden Jahren müssen Großbritannien und die EU ihre Beziehungen neu ordnen.

PFUND UND EURO FALLEN - FRANKEN-RALLY RUFT SNB AUF DEN PLAN


Für viele Börsianer war der Schock über den Ausgang der Volksabstimmung groß, hatten sie in den vergangenen Tagen doch auf einen Verbleib Großbritanniens in der Staatengemeinschaft gewettet. Der britischen Wahlbehörde zufolge stimmten 52 Prozent der Wähler für einen Brexit.

An den Devisenmärkten herrschte blankes Entsetzen: Der Kurs des Pfund Sterling stürzte am Morgen um bis zu 11,1 Prozent ab und lag mit 1,3232 Dollar so niedrig wie zuletzt im September 1985. Gleichzeitig stiegen die Kosten für die Absicherung gegen Kursausschläge der britischen Währung in den kommenden Tagen um das Dreieinhalbfache auf ein Rekordhoch. Der Euro fiel um bis zu 4,1 Prozent auf ein Dreieinhalb-Monats-Tief von 1,0914 Dollar.

Kaum weniger verschreckt reagierten die Aktienanleger. Dax und EuroStoxx50 brachen zur Eröffnung um jeweils etwa zehn Prozent auf 9226 und 2736 Punkte ein. Der Londoner Auswahlindex FTSE verlor knapp neun Prozent. Das ist für alle drei der größte Kursrutsch seit der Pleite der US-Investmentbank Lehman Brothers im Herbst 2008. Bis zum Mittag grenzten sie ihre Verluste etwas ein und notierten zwischen 4,8 und 9,1 Prozent im Minus.

Die Börsen in Mailand und Madrid steuerten mit einem Minus von jeweils rund zehn Prozent auf die größten Tagesverluste ihrer Geschichte zu. Investoren befürchteten in beiden Staaten ein weiteres Erstarken EU-kritischer Parteien und zogen daher ihr Geld ab. Am Sonntag wird in Spanien ein neues Parlament gewählt. Im Oktober stimmen die Italiener über eine Verfassungsreform ab.

Auch die Wall Street in New York dürfte in den Abwärtsstrudel geraten. Die Terminkontrakte auf die US-Indizes signalisierten am Freitag Verluste zu Handelsbeginn von bis zu 3,5 Prozent.

FINANZWERTE MIT ZWEISTELLIGEN PROZENTUALEN VERLUSTEN


Verkauft wurden vor allem Finanzwerte, die überdurchschnittlich auf Nachrichten rund um den Brexit reagieren[ ]. Britische Geldhäuser wie Royal Bank of Scotland (RBS) oder Lloyds verloren jeweils etwa 20 Prozent. Deutsche Bank und Commerzbank büßten etwa zwölf Prozent ein.

Auch an den Rohstoffmärkte gerieten die Kurse ins Wanken. Der Preis für die richtungsweisende Öl-Sorte Brent aus der Nordsee fiel um 4,6 Prozent auf 48,57 Dollar je Barrel (159 Liter). Das wichtige Industriemetall Kupfer kostete mit 4686,50 Dollar je Tonne zwei Prozent weniger als am Donnerstag.

Nach Schätzung von DZ Bank-Analysten Christian Kahler haben sich durch den aktuellen Crash weltweit fünf Billionen Dollar an Börsenkapitalisierung in Luft aufgelöst. Das entspricht in etwa dem Doppelten der jährlichen Wirtschaftsleistung Großbritanniens.

ANLEGER FLÜCHTEN IN "SICHERE HÄFEN"


Gefragt waren dagegen bei Investoren vermeintlich sichere Anlagen wie Gold, Staatsanleihen oder der Schweizer Franken. Das Edelmetall verbuchte den größten Kurssprung seit 2008. Der Gold-Preis stieg um bis zu 8,2 Prozent auf ein Zwei-Jahres-Hoch von 1358,20 Dollar je Feinunze (31,1 Gramm). Dies hievte die Aktien des Minenbetreibers Randgold auf ein Rekordhoch von 8350 Pence.

Begehrt war auch die Schweizer Währung. Der Kurs des Euro fiel um 2,8 Prozent auf ein Elf-Monats-Tief von 1,0612 Franken. Im Verlauf des Vormittags grenzte der Euro seine Verluste aber ein und stieg auf 1,0838 Franken, nachdem die Schweizerische Notenbank SNB am Devisenmarkt intervenierte.

Der Run auf Staatsanleihen drückte die Rendite der richtungsweisenden zehnjährigen Bundesanleihe auf ein Rekordtief von minus 0,17 Prozent. Ihre britischen Pendants rentierten mit 1,018 Prozent ebenfalls so niedrig wie nie zuvor. Hier spekulierten Anleger auf eine Zinssenkung der Bank von England (BoE) und sicherten sich mit den Käufen die aktuellen, höheren Zinsen.