Sehr schnell folgte aber die verbalerotische Kehrtwende ohne politisches Rotwerden, die totale politische Entdramatisierung des Brexit. Immerhin vom Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses des Europäischen Parlaments und Merkel-Intimus Elmar Brok hört man, dass die Brexit-Abstimmung in Großbritannien nur "ein beratendes Referendum" war, dass "nicht bindend" sei. Großbritannien müsse sich jetzt entscheiden, ob es austreten wolle oder nicht. London bekommt also noch eine zweite Chance? Brüssel will offensichtlich den Familienzusammenhalt mit den Briten. Auf dem Kontinent suchen Politiker unter jedem Stein nach Möglichkeiten, den Brexit rückgängig zu machen. Die anpassungsfähigste Spezies auf der Erde sind eben nicht die Chamäleons, sondern die Politiker.

Denn nachdem man jetzt sein erstes Mütchen in Brüssel gekühlt hat und noch einmal drüber geschlafen hat, fürchtet man den Nachahmereffekt. Nach David könnten auch noch andere Tanten und Onkel den britischen Abgang machen. Wenn nicht jetzt, wann dann? Auf diese explosive Sprengkraft für die gesamte EU-Familie hat niemand Lust. Und daher schießt der Kontinent mittlerweile nur noch mit Wattebällchen gegen die Insel.

Das Gleichgewicht des Schreckens zwischen der Insel und dem Kontinent



Für selbstgerechte, moralische Überheblichkeit Brüssels den Briten gegenüber besteht ohnehin kein Anlass. Denn die Briten drehen den Spieß um. Zwar wäre der britische Exodus für die Volkswirtschaft der Insel schlimmer als der Diebstahl der Kronjuwelen. Aber sie könnten umgekehrt auch der EU schaden. Sollten die großen Briten austreten, drohen sie bereits, alle Register zu ziehen, um im weltweiten Kampf um Arbeitsplätze und Investitionen den Löffel nicht vollends abgeben zu müssen: Als europäisches Offshore-Zentrum mit niedrigsten Steuersätzen für Unternehmen und vermögende Private, noch geringeren Sozialstandards und natürlich einem wieder deregulierten Finanzplatz London, könnte das Land zu einer der wettbewerbsfähigsten Volkswirtschaften der Welt werden.

Am Brexit-Ende hätte die EU ein noch größeres Problem. Der Spaltpilz in der EU wuchert ohnehin schon. Sollten aber auch noch (finanz-)wirtschaftliche Einbußen auf dem Kontinent durch Umsiedlung von Unternehmen nach Großbritannien dazu kommen, würde die politische Eurosklerose erst richtig Fahrt aufnehmen. Im Endeffekt wäre der Brexit der ultimative Generalangriff auf den Familienzusammenhalt in Europa. Das will doch niemand, übrigens auch nicht die Briten. Ihre Ankündigung, im Falle eines Brexit wirtschaftspolitisch so richtig mobil zu machen, sollte man nicht als Drohung verstehen, sondern als politisch verklausulierte Handreichung an Brüssel, es doch noch einmal miteinander zu versuchen: Wir wollen doch gar nicht gehen, das Brexit-Votum war doch gar nicht so ernst gemeint! Was interessiert mich mein Referendum-Geschwätz von gestern? Nichts auf dieser Welt hat eine so kurze Halbwertszeit wie Meinungen von Politikern.

Auf Seite 2: Eigentlich ist der Brexit hüben wie drüben unerwünscht





Eigentlich ist der Brexit hüben wie drüben unerwünscht



In diesem Zusammenhang spielen die innenpolitischen Probleme in Großbritannien Brüssel und London gleichermaßen in die Hände. Wer soll denn im Land der guten Küche die Scheidung jetzt noch einleiten? Die zwei Scheidungsanwälte auf der Seite der Brexit-Befürworter - Boris Johnson und Nigel Farage - sind zurückgetreten. Herr Farage wird als Synonym für Feigheit und politische Charakterlosigkeit in die Geschichte eingehen. Er will sein Leben zurück. Das hätte dieser eitle populistische Pfau auch früher haben können. Ich werde ihn mit der ganzen Kraft meines kleinen Herzens nicht vermissen. Hätte er Anstand, würde er ebenso seinen gut dotierten Sitz im EU-Parlament aufgeben. Wie kann man sich von der EU bezahlen lassen, wenn man sich doch deren Tod wünscht?

Natürlich wissen diese zwei Vorzeige-Pharisäer genau, dass sie mit dem Brexit-Votum nur einen kurzfristigen Pyrrhus-Sieg errungen haben. Die endgültige Schlacht um England würden sie verlieren: Wirtschaftlich würde eine lange Saure Gurken-Zeit anbrechen und (geo-)politisch würde wohl niemand mehr das Adjektiv "groß" verwenden, wenn man an Britannien denkt.

Und wer wird sich jetzt darum reißen, neuer Anführer einer rohrkrepierenden Brexit-Bewegung zu werden? Eine rhetorische Frage!

Es lebe der Re-Brexit



Natürlich ist es für britisch-europäisches Liebesgeflüster zu früh. Offiziell muss die EU noch die beleidigte Leberwurst spielen und sich die britische Seite standhaft, very british, zeigen. Das ist aber nur eine Polit-Show, um dem Publikum die Illusion politischer Glaubwürdigkeit vorzugaukeln. Im Herbst allerdings, wenn die Zeit alle politischen Wunden weitgehend geheilt hat, ist der Weg der Annäherung auch ohne Partnervermittlung vorgezeichnet. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Was spricht also dagegen, im Herbst ein neues Referendum zu machen, dass dann ein anderes Ergebnis bringt. Im Übrigen spricht die EU doch so gerne von christlicher Wertegemeinschaft. Ist es da nicht üblich, den Reumütigen zu verzeihen? Will man denjenigen, die ihre "Abstimmungssünde" erkannt haben, wirklich die Hand der Versöhnung versagen?

Ein neuer Premierminister oder eine neue Premierministerin, der/die im Oktober auf den glücklosen Dave is on the road again-Cameron folgt, könnte dieses neue direkte Pro EU-Votum durch eine vorgezogene Parlamentswahl repräsentativ absichern lassen.

Die neue Regierungschefin könnte die EU-freundlichere Theresa May werden. Mit Angela Merkel hat sie durchaus Gemeinsamkeiten. Wie Angela Merkel ist sie eine besonnene Vertreterin und ebenso Pfarrerstochter. Selbst Ähnlichkeiten in puncto Frisur lassen sich nicht leugnen. Da sollte eine "Verständigung" doch möglich sein.

Dann wäre das politische Risiko auch für die europäischen Finanzmärkte zunächst eingefangen. Sicherlich werden die Volatilitäten über den Sommer jedoch hoch bleiben.

Auf Seite 3: Welche Anziehungskraft hat die EU überhaupt noch?





Welche Anziehungskraft hat die EU überhaupt noch?



Nach dem Re-Brexit mögen viele in Brüssel denken "Noch einmal Glück gehabt". Doch der gemäß Referendum geforderte Brexit dokumentiert schonungslos die zerrütteten Familienbeziehungen in der EU. Der Brexit ist nur die Spitze des Eisbergs. Wenn jemand trotz vorhandener Vorteile - z.B. Zugang zum größten Binnenmarkt der Welt - die Familie verlassen will, hat nicht nur der Ausgetretene, sondern auch die Familie selbst ein sehr ernstes Problem. Die Nestwärme und das Vertrauen sind futsch! Wir haben eine europäische Familienkrise.

Und wo bleibt jetzt die Brüsseler Einsicht, auf die erst Besserung folgen kann? Wie kann man die kaputte EU-Familie wieder flicken? Die Damen und Herren Politiker müssen sich fragen, warum die EU so viel an Attraktivität verloren hat und wie sie wieder an Sexappeal gewinnt.

Geradezu liebestötend ist es jedoch, jetzt lediglich mehr europäische Integration zu fordern. Mehr Integration widerspricht dem aktuellen politischen Zeitgeist in vielen EU-Ländern. In der Theorie müsste sich die EU zwar zu den Vereinigten Staaten von Europa mit eigener Regierung und entscheidungsfreudigem Parlament entwickeln. Und nationale Regierungen dürften dann europäischen Mehrheitsbeschlüssen auch nicht mehr widersprechen können, schon gar nicht Reformen. Doch die Wahrscheinlichkeit dafür ist praktisch gleich Null. Selbst eine Kern-EU ist derzeit kaum zu erreichen. Oder glauben Sie, dass sich Merkel, Hollande oder Renzi auf einen politisch ähnlich schwachen Status wie Ministerpräsidenten von Bundesländern zurücksetzen lassen? Haben Sie jemals gehört, dass sich Casanova aus freien Stücken selbst kastriert? Im Grunde ist ihnen die Schwäche der EU-Kommission doch recht.

Die alternative Lösung heißt für die EU zunächst kleinere Brötchen zu backen, die politisch aber durchaus gut schmecken können. Nach EU-innen muss wieder mehr nationale Souveränität her. Nationale Angelegenheiten müssen auch national entschieden werden. Auch hat die Brüsseler Planwirtschaft nicht dirigistisch zu bestimmen, wie Produkte und Dienstleistungen auszusehen haben. Der Markt, die EU-Bürger entscheiden, was attraktiv und kaufenswert ist.

Zusammenhalten muss man vor allem nach EU-außen. Hier haben nationale Alleingänge nichts zu suchen, auch keine deutschen. Es geht darum, die EU-Staatsgrenzen gemeinschaftlich zu schützen, Migration Europa-einheitlich anzupacken und eine grenzüberschreitende Terrorabwehr hinzubekommen. Diese Themen brennen den EU-Bürgern auf den Nägeln. Eine europäische Phalanx darf sich nicht von den USA, China & Co. über den Tisch ziehen lassen. Bei Freihandelsabkommen muss Europa eine Stimme haben, keine kakophonische Sprachverwirrung, die uns nur schwächt.

Das i-Tüpfelchen oben drauf wäre es, wenn das Polit-Europa aus dem Dunstkreis stinkend fauler Kompromisse herauskommt, die durch Kungeleien in irgendwelchen Kaminzimmern erzielt werden. Mehr Transparenz muss her. Erst all diese Maßnahmen schaffen wieder Vertrauen in die EU.

Die EU-Politik muss sich frei an das Gelassenheitsgebet halten:

Brüssel, gib dir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die man nur national ändern sollte, gib dir den Mut, Dinge zu ändern, die europäisch, nach außen geändert werden müssen, aber gib dir vor allem die politische Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.

Wenn jetzt aber aus der EU-Kommission renitent zu hören ist, es gebe keinen großen Reformbedarf, wird das Gebet weder gesprochen noch erhört. Aber ohne knallharte Reformen besteht die Gefahr, dass die EU auseinanderbricht.

Ein erster Reformanfang wäre es, in Brüssel personelle Konsequenzen zu ziehen. Nur so zeigen die Politiker, dass man Europa und seine EU-Bürger ernst nimmt. Nur neue und vor allem starke Besen kehren gut!

Rechtliche Hinweise / Disclaimer und Grundsätze zum Umgang mit Interessenkonflikten der Baader Bank AG: https://www.bondboard.de/main/pages/index/p/128

Robert Halver leitet die Kapitalmarktanalyse bei der Baader Bank.