Europa ist groß und mächtig. Ja, die EU ist der größte Wirtschaftsraum der Welt. Ein Economic Powerhouse, das sich mit den USA und China auf Augenhöhe befindet. Und wie sieht es politisch aus? Bei allem Respekt, da ist selbst Mickey Mouse größer. Um gegenüber den global Großen politisch mitstinken zu können, ist nämlich Einigkeit gefragt. Einigkeit wie sie im Wappenspruch der Vereinigten Staaten von Amerika verbrieft ist: "E pluribus unum", frei übersetzt: "Aus vielen eines". Aber vom Status der Vereinigten Staaten ist Europa weit entfernt: Die EU tritt nicht harmonisch wie die Fischer-Chöre auf, sondern eher wie eine angetrunkene Partygemeinschaft, die um Mitternacht Happy Birthday singt.
Die EU ist sich darin einig, uneinig zu sein
Es ist zum Haare raufen, dass sich Europa selbst in den elementarsten politischen Dingen nicht grün ist. Wie erbärmlich ist es, wenn es der größte Währungsraum der Welt nicht schafft, eine Lösung der Flüchtlingskrise hinzubekommen. Welches zerrüttete Bild transportiert man in die Welt, wenn es die große EU-Familie nicht schafft, in Grenzfragen zusammenzuarbeiten. Nichts verdeutlicht dieses Zerwürfnis so sehr wie die Streitereien zwischen den Brudervölkern Deutschland und Österreich.
Die EU ist so zerstritten wie eine Ehe, die nur noch durch das gegenseitige Bewerfen mit Porzellan in Bewegung bleibt. Und jetzt bildet man sich ein, den Beziehungsstress mit einem Paartherapeuten in den Griff zu bekommen. Er soll dafür sorgen, dass Europa, wenn schon keine Liebesbeziehung, dann doch zumindest eine Vernunftehe führen kann. Dieser Therapeut steht außerhalb der EU und heißt Türkei. Zur Stressentspannung in der EU-Familie bietet er die Rücknahme aller nach Griechenland gelangenden Flüchtlinge an. Dafür verlangt er eine Gegenleistung. Das ist zunächst legitim. Kein Beziehungstherapeut muss umsonst arbeiten.
Doch dieser wähnt sich angesichts der schweren Zwietracht in der EU in einer besonders starken Position, die es ihm erlaubt - ein Schelm, wer Böses dabei denkt - den Preis für seine Dienste hoch zu treiben. Aus drei Mrd. Euro Beratungshonorar sollen sechs werden, also 100 Prozent mehr. Und warum sollte es bei dieser Höhe bleiben? Vielleicht stellt man ja fest, dass die Beherbergungskosten von Flüchtlingen - ganz unerwartet und plötzlich - höher ausfallen. Davon abgesehen wurden bereits Abstriche an der Rücknahmeabsicht von Flüchtlingen geäußert. Und überhaupt, wenn man glaubt, am längeren Hebel zu sitzen, warum sollte man dann nicht ebenso den politischen Preis wie auf einem Basar richtig hochtreiben? Ein Fuchs kann niemals Oberaufseher über den Hühnerstall werden.
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Die EU darf für die Fremdsicherung der Außengrenze nicht jeden Preis zahlen
Zu so einer folgenreichen Abhängigkeit darf es die EU niemals kommen lassen. Europa hat so viel erreicht. Da muss es dann auch in Flüchtlings- und Grenzfragen sagen: Wir schaffen das und zwar ohne fremde Hilfe. Bevor man den Klatsch und Tratsch der Beziehungsprobleme nach außen trägt und ein schwaches Bild abgibt, rauft man sich zusammen und spricht miteinander. So macht man es privat doch auch. Nicht zuletzt dafür hat uns der liebe Gott einen Mund gegeben. Das Bestreben der EU muss sein, erst gar keinen Paartherapeuten zu brauchen, der Eigeninteressen verfolgt.
Das setzt allerdings voraus, dass man innerhalb der EU eigene Maximalpositionen überdenkt und auf andere zugeht. Ich behaupte, hier ist die deutsche Seite noch nicht vollständig an ihre Grenzen des Möglichen gestoßen. Wenn Politik die Kunst des Möglichen ist, dann sollte man in Berlin auch Kunst möglich machen.
Ein Eingehen auf andere EU-Länder ist keine Schwäche, sondern zeugt von politischer Reife und der Einsicht in die Notwendigkeit einer harmonischen und friedlichen Koexistenz. In einer Beziehung kann niemand dem Anderen den eigenen Willen aufzwängen, auch dann nicht, wenn man sich im Recht fühlt und schon gar nicht mit Unterstützung durch einen Außenstehenden. Auch sollte man sich schnell vom Begriff "Koalition der Willigen" trennen. Dieser Begriff war schon 2003, als es darum ging, wer im Irak-Krieg mitmacht, fatal. Damit setzt man die andere Seite nur unter Druck, der bekanntlich Gegendruck erzeugt. Und dann machen am Ende alle dicht. Ach wäre es doch schön, wenn man sich nach den drei kommenden Landtagswahlen - wenn Ruhe einkehrt - wieder zusammenraufen könnte. In der EU muss wieder das Musketier-Prinzip gelten.
Europa ist zu groß, um klein zu sein
Hat man dann intern die Wogen geglättet, kann man auf dieser Basis Lösungen in der Flüchtlingsfrage finden. Dabei sollte Europa sich auch nicht von anderen Fremdinteressen leiten lassen. Wir müssen uns nicht vor den Karren Amerikas mit seiner teilweise unreflektierten "Hau den bösen Iwan-Politik" spannen lassen. Die Wirtschaftsblockade hat Europa politisch nicht genutzt, aber wirtschaftlich - gerade Deutschland - schwer geschadet. Amerika leidet dagegen nicht.
Die USA sind mindestens ein Mitverursacher der Flüchtlingskrise. Hier habe ich mich jetzt noch sehr diplomatisch ausgedrückt. Doch das Verursacherprinzip kennt offensichtlich keinen "Schadensersatz". Wie schön, dass es den Atlantik zwischen Amerika und Europa gibt.
Insgesamt ist es für die EU gerechtfertigt, nach ganz eigenen Lösungen zu suchen. Wenn man mit einem Staatspräsidenten aus dem Südosten spricht, warum sollte man es nicht auch mit einem aus dem Osten tun. Einen Schönheitswettbewerb gibt es hier nicht. Wladimir Putin ist in der Syrien-Frage nicht nur Statist, sondern spielt eine bedeutende Rolle. Wir können uns in der aktuell angeschlagenen Situation keinen lupenreinen Demokraten in Moskau backen. Russland ist mit seinem Trumpf Assad zwar Teil des Syrien-Problems, aber auch Teil seiner Lösung. Das ist eine nicht zu leugnende Realität.
In diesem Zusammenhang sollte Europa endlich begreifen, dass Russlands eitler Präsident geopolitisch wieder dabei sein will. Auf dieser Klaviatur sollte die EU spielen: Wir geben dir mehr geopolitisches Spielzeug und du hilfst uns in Syrien bei der Errichtung einer befriedeten Region, Leistung gegen Gegenleistung. Es ist dringend Zeit für europäische Interessen und nicht Fremdinteressen aus dem Südosten oder Westen.
Wenn die EU keinen unterwürfigen, sondern einen handlungsfähigen und politisch stabilen Rahmen schafft, tun sie etwas für den EU-Familienzusammenhalt. Dem Brexit als Nummer gegen britischen EU-Kummer wirken wir damit entgegen. Übrigens, wer politisch stark ist, ist sexy und zieht Investitionskapital an. Und umgekehrt, wer politisch schwach ist, wird früher oder später auch wirtschaftlich unter Muskelschwund leiden.
Die politische Lust am politischen Untergang Europas muss enden. Dafür müssen auch deutsche Politiker die eine oder andere Kröte schlucken, die aber im nationalen Interesse ist: Die deutsche (Export-)Wirtschaft und den deutschen Aktienmarkt wird es freuen.
Rechtliche Hinweise / Disclaimer und Grundsätze zum Umgang mit Interessenkonflikten der Baader Bank AG: https://www.bondboard.de/main/pages/index/p/128
Robert Halver leitet die Kapitalmarktanalyse bei der Baader Bank.