Das Wirtschaftswachstum schwächt sich ab, an den Finanzmärkten wächst die Unruhe. Doch Indien, inzwischen eine der größten Volkswirtschaften der Welt, ist weiter auf dem richtigen Weg. Von Michael Alexander Braun



Man sollte meinen, dass ein Wachstum von 5,7 Prozent und Höchststände an der Börse gute Gründe wären, zufrieden mit sich und der Welt zu sein. Nicht aber in Indien. Obwohl die Leitindizes seit Anfang des Jahres rasant zugelegt haben und Sensex und Nifty 50 zuletzt Rekordniveaus erreichten, macht sich südlich des Himalajas Krisenstimmung breit. Denn noch im Frühjahr 2016 hatte das Wachstum deutlich höher gelegen, bei mehr als acht Prozent. Die Geschäftsdynamik lässt nach, die Konjunktur scheint zu schwächeln, jedenfalls gefühlt. Die Finanztageszeitung "Mint" konstatierte eine "schockierende Verlangsamung" der Wirtschaft und fragte nervös: "Was ist mit Indiens Wirtschaft falsch gelaufen?"

Richtige Antwort: gar nichts. Die mauen Wachstumsraten sind vielmehr im Kontext wirtschaftspolitischer Reformen zu sehen, die sich in der zweitgrößten Nation der Erde langfristig deutlich positiv auswirken dürften. Indiens Premier Narendra Modi von der Bharatiya Janata Party (BJP) hatte sein Amt 2014 mit einer umfangreichen Reformagenda angetreten. Modi und seine Koalitionspartner sind dank ihres konservativen Hindu-Nationalismus gesellschaftspolitisch zwar umstritten. Wirtschaftspolitisch aber erfüllt der Regierungschef die Wahlversprechen.

Kurzfristig schmerzhaft



Wie oft bei politischen Großreformen gilt auch in Indien: Was langfristig richtig, kann kurz- und mittelfristig schmerzhaft sein. So hat die im Juli umgesetzte Umsatzsteuerreform, die größte Steuerreform in der Geschichte der Republik Indien, zahllose kleinere Unternehmen in Mitleidenschaft gezogen, die nun erstmals digitale Steuererklärungen abgeben müssen. Da viele Firmen zuvor ohne IT und Computer operierten, wurden sie ausgebremst.

Darüber hinaus wirkt die 2016 binnen weniger Stunden umgesetzte Währungsreform nach, die 86 Prozent des umlaufenden Bargelds wertlos machte. Und der soeben zu Ende gegangene Monsun, wichtig für die indische Landwirtschaft, fiel in diesem Jahr unterdurchschnittlich aus. All dies ist relevant, in der längerfristigen Betrachtung aber kein Grund zu Sorge. Im Gegenteil: Steuerreform wie Währungsreform sind Meilensteine im indischen Entwicklungsprogramm, weil sie die Digitalisierung der Wirtschaft forciert haben - ein Effekt, der sich auf Jahre und Jahrzehnte hinaus positiv auswirken wird.

Insbesondere in drei Sektoren herrschte zuletzt Unruhe: Telekommunikation, Banken und IT. Im Telekomsegment hatte der Markteinstieg von Reliance Industries (RIL), des Konglomerats von Multimilliardär Mukesh Ambani, für Schneisen der Verwüstung gesorgt. Ambani stampfte mit der Telekommarke Jio einen Billiganbieter aus dem Boden, der schnell 140 Millionen Kunden gewann und Margenrückgänge bei den Rivalen sowie eine Konsolidierung des Sektors nach sich zog.



Vodafone India, Tochter der britischen Vodafone Group, fusionierte mit Idea Cellular. Norwegens Telenor, mit dem eigenen Indien-Projekt gescheitert, verscherbelte das dortige Geschäft an Bharti Airtel, mit 281 Millionen Kunden allein in Indien zahlenmäßig einer der größten Anbieter weltweit. Und vor wenigen Tagen schluckte Bharti den Rivalen Tata Teleservices, den der Mutterkonzern Tata Sons mangels Ertragsperspektive verschenkte. Damit dürfte die Telekom-Neuordnung in Indien weitgehend abgeschlossen und das Schlimmste überstanden sein. Die meisten Inder werden im 21. Jahrhundert voraussichtlich mit einem von drei oligopolistischen Anbietern telefonieren und Datendienste nutzen: Airtel, Idea-Vodafone und Reliance Jio.

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Kurzfristig kostspielig



Mehr und mehr entpuppt sich RIL als Sieger dieses Wettstreits, der den Konzern Anlaufinvestitionen von mehr als 30 Milliarden Dollar kostete. Das in Mumbai beheimatete Konglomerat verdient zwar noch immer mit Öl, Gas und Petrochemie das meiste Geld. Aber Jio ist schon jetzt eines der nach Kundenzahl größten Telekomunternehmen der Welt. Zugleich ist RIL inzwischen größter Einzelhändler in Indien und löste Tata Consultancy Services (TCS) als größtes börsennotiertes Unternehmen des Landes ab. Der RIL-Kurs hat sich seit unserer Erstempfehlung vor drei Jahren glatt verdoppelt.

Nicht ausgestanden sind hingegen die Probleme der Banken, die sich durch einen Berg fauler Kredite arbeiten müssen. Erst vor wenigen Tagen zeigte Axis Bank, dass man auch als drittgrößte Privatbank vor schlechten Schuldnern nicht gefeit ist. Der in Indien traditionell wichtige IT-Sektor wiederum leidet unter der Visumspolitik der USA. Ein wesentlicher Aspekt des Geschäftsmodells basiert darauf, indische IT-Fachleute, die deutlich weniger als ihre amerikanischen Kollegen verdienen, in die USA zu entsenden. Bei Infosys, einem der größten Anbieter, kommen hausgemachte Managementprobleme hinzu.

Insgesamt aber kein Grund zur Panik, die Story ist intakt. Das World Economic Forum setzte den Subkontinent in seinem Ranking der Wettbewerbsfähigkeit auf Rang 40 von 137 Staaten, so gut wie nie zuvor. Industrieproduktion und Exporte stiegen zuletzt. Der IWF prognostiziert für 2018 immerhin 7,4 Prozent Wachstum, also ein deutliches Wiederanziehen, während IWF-Chefin Christine Lagarde Indien auf "sehr solidem Kurs" sieht. Anleger sollten schwache Börsentage zu Nachkäufen nutzen.



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