BÖRSE ONLINE: Das Jahr 2020 war in vielerlei Hinsicht historisch: Das Coronavirus hat Börsen, Wirtschaft und Gesellschaft durcheinandergewirbelt. Nach dem heftigen Crash im Frühjahr ging es an der Börse wieder steil bergauf. So viele Menschen wie noch nie arbeiteten im Homeoffice. Gesundheitsthemen stehen plötzlich im Mittelpunkt der Berichterstattung. Wie blicken Sie auf das abgelaufene Jahr?
Jörg Krämer: In der Corona-Krise haben die Menschen erfahren, wie wichtig der Staat ist. Sie glauben jetzt wieder mehr an den Staat - besonders in Deutschland. In diesem politischen Klima werden Finanzminister und die Notenbank sehr lange mit dem Fuß auf dem Gaspedal bleiben.

2020 stand das Börsenjahr ganz im Zeichen der Corona-Krise, der US-Wahl, dem Brexit und dem US-Handelsstreit mit China. Welche Unsicherheiten erwarten die Aktienmärkte im neuen Jahr?
Die meisten Anleger an den Aktienmärkten gehen davon aus, dass sich die Pandemie ab dem Frühjahr zurückzieht - auch wegen der Fortschritte bei den Impfstoffen. Ich rechne auch mit diesem positiven Szenario, muss aber zugeben, dass es Risiken gibt. Beispielsweise könnten nicht genügend Menschen bereit sein, sich impfen zu lassen. Außerdem könnte das Virus weiter mutieren. Die Unsicherheit rund um das Thema Corona bleibt hoch.

Welche Themen dürften die Börsen 2021 außerdem beschäftigen?
Wenn die Pandemie abebbt, geht es um die Frage, wie schnell oder langsam sich die Wirtschaft erholt. Viele Anleger fragen sich auch, wie lange die Inflation noch niedrig bleibt und wer die ganzen Schulden zurückzahlen soll.

In Deutschland steht im neuen Jahr die Bundestagswahl an. Wie dürfte sich diese auf die Aktienmärkte auswirken?
In der Regel wirken sich Bundestagswahlen nur wenig auf den Dax aus. Die Wirtschaftspolitik der großen Parteien unterscheidet sich nicht sehr stark voneinander. Das wäre allerdings anders bei einer Koalition der Grünen und der SPD mit der Linkspartei. Die Aussicht auf deutliche Steuererhöhungen und weniger Markt wäre für deutsche Aktien ein Problem. Aber eine solche Koalition halte ich nicht für das wahrscheinlichste Szenario.

In den USA tritt mit Joe Biden ein neuer Präsident sein Amt an. Welchen Einfluss hat dieser Wechsel auf das anstehende Börsenjahr?
Das hängt vom Ausgang der Stichwahl für die Senatswahlen in Georgia ab. Wenn den Demokraten dort der Durchmarsch nicht gelingt, dann hätten sie keine Mehr im Senat. Der linke Flügel der Demokraten wäre lahmgelegt, und Biden müsste Kompromisse mit den Republikanern eingehen. Aber genau eine solche Politik der Mitte wünschen sich die meisten Anleger.

In den USA und in Großbritannien hat der Impfstoff von Biontech und Pfizer schon eine Notfallzulassung bekommen und in Europa ist die bedingte Marktzulassung geschafft. Auch in Deutschland wurde bereits mit dem Impfen begonnen. Welche Hoffnungen haben Sie mit dieser Aussicht für das kommende Jahr?
Die Impfungen sollten ab dem Herbst zu einer ausreichenden Immunisierung der Bevölkerung führen. Die Angst vor Ansteckung schwindet; kontaktintensive Dienstleistungen wie Hotels, Restaurants und Kneipen gehen wieder in den Normalbetrieb. Das spricht ebenso für eine kräftige wirtschaftliche Erholung wie die hohen Ersparnisse, die viele Bürger während des Lockdowns gebildet hatten. Wenn sie nur einen Teil davon ausgeben, dürfte der Konsum deutlich anziehen.

Wie lange werden uns die wirtschaftlichen Folgen durch die Corona-Pandemie noch begleiten?
Auch wenn sich die Pandemie ab dem Frühjahr zurückzieht und sich die Wirtschaft kräftig erholt, werden uns die Folgen von Corona noch lange begleiten. Da sind zunächst die Staatsschulden, die im Durchschnitt der Industrieländer so hoch sind wie nach dem Zweiten Weltkrieg. Außerdem führt der durch Corona wiedererwachte Glaube an den Staat dauerhaft zu mehr staatlichen Eingriffen in die Wirtschaft.

Mit den aktuellen Rekordständen an den Börsen setzen die Anleger zunehmend auch auf die Zeit nach der Pandemie. In den Fokus rücken die Sektoren, die in den vergangenen acht Monaten stark Federn lassen mussten wie Touristik, Reise, Teile der Industrie (Auto), Flugzeugbau, teilweise auch Banken. Dagegen gelten Corona-Krisengewinner wie Tech-Werte schon jetzt als relativ teuer. Inwieweit erwarten Sie eine solche Sektor-Rotation für 2021 und welche Gewinner beziehungsweise Verlierer wird es geben?
Wenn die Wirtschaft die Pandemie ab dem Frühjahr überstanden hat, werden die meisten der Aktien leiden, die während der Krise zuvor stark gestiegen waren. Ich rechne mit einer Sektorenrotation.

Was erwarten Sie von den Billionen-Konjunkturprogrammen, die in Europa und den USA noch aufgelegt werden sollen?
Konjunkturprogramme sind meist Strohfeuer, die in der unmittelbaren Krise etwas wärmen, aber schnell verglimmen und einen großen Schuldenberg hinterlassen. Aber leider glauben viele Anleger vor allem in angelsächsischen Ländern noch immer an den Nutzen von Konjunkturprogrammen.

Anfang Januar 2021 wird die wegen der Corona-Pandemie auf 16 Prozent gesenkte Mehrwertsteuer wieder auf 19 Prozent angehoben. Was bedeutet das für den Konsum der Deutschen?
Üblicherweise ziehen Konsumenten größere Anschaffungen zeitlich vor, um noch in den Genuss der niedrigeren Mehrwertsteuer zu kommen. Das spräche für einen etwas höheren Konsum im Dezember und einen Rückgang im Januar 2021. Aber dieser Effekt fällt in diesem Winter nicht ins Gewicht, weil die meisten Geschäfte wegen Corona geschlossen sind.

Christine Lagarde hat das erste Jahr als Chefin der Europäischen Zentralbank (EZB) hinter sich. Man erhoffte sich unter anderem Unterstützung im EZB-Rat, den Lagardes Vorgänger Mario Draghi mit einigem Gesprächsbedarf zurückgelassen hatte. Konfliktthemen waren unter anderem die erneute Aufnahme des Anleihenkaufprogramms sowie das Verharren des Leitzinses auf dem Rekordtief. Welches Resümee ziehen Sie nach diesem Jahr für die EZB und nach einem Jahr Lagarde?
Im Ton ist Christine Lagarde verbindlicher. Sie geht mehr auf die unterschiedlichen Lager im EZB-Rat ein. Aber inhaltlich steht Lagarde als ehemalige Politikerin wie Draghi für eine Politik des billigen Geldes, auch sie hilft den Finanzministern der hoch verschuldeten südlichen Mitgliedsländer. So hat die EZB mit ihren Anleihekäufen seit dem Ausbruch von Corona die gesamten Haushaltsdefizite der Euro-Staaten finanziert.

In den USA werden die finanziellen Geschicke künftige von Janet Yellen als Finanzministerin und Fed-Chef Jerome Powell gelenkt. Was bedeutet das für die US-Wirtschaft?
Janet Yellen erbt eine Staatsschuld, die im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt so hoch ist, wie nach dem Zweiten Weltkrieg. In dieser Situation hat kein Finanzminister viel Spielraum.

Der Handelskonflikt zwischen den USA und China wurde unter dem amtierenden US-Präsident Donald Trump bis zuletzt nicht entschärft. Welche Chancen sehen Sie für die künftige Zusammenarbeit im neuen Jahr und unter einem neuen Präsidenten?
Präsident Joe Biden wird gegenüber China im Ton nicht so aggressiv auftreten wie Donald Trump. Aber auch er wird den wirtschaftlichen, politischen und militärischen Aufstieg Chinas mit Hilfe der Handelspolitik beschränken wollen. Denn China wird sowohl von Demokraten als auch Republikanern als Bedrohung wahrgenommen.

Was bedeutet das für deutsche Exportfirmen?
Noch profitiert die deutsche Exportwirtschaft davon, dass sich China zügig von Corona erholt. Aber irgendwann werden sich die Europäer entscheiden müssen, wo sie im Konflikt zwischen den USA und China stehen wollen. Da lauern für die deutsche Wirtschaft auf die lange Sicht große Risiken.

Ihr persönlicher Anlagetipp: Worauf würden Sie 2021 setzen?
Der Dax mit seinem großen Anteil konjunktursensitiver Unternehmen sollte überdurchschnittlich profitieren, wenn wir 2021 die Corona-Krise hinter uns lassen. Ansonsten ist Gold eine gute Absicherung für all jene, die langfristig eine Rückkehr der Inflation fürchten.