Die jüngste Rallye wirkt erschöpft, der Markt verliert an Breite. Kommt jetzt der Rücksetzer? JPMorgan sieht Rückschlagpotenzial.
Selten sind sich Charttechnik und Marktgefühl so einig wie in diesen Tagen. Der Sommer ist jung, die Kurse hoch, die Schlagzeilen riskant. Und doch halten sich die Märkte erstaunlich stabil – bislang. Doch aus Sicht von Jason Hunter, dem Leiter der technischen Analyse bei JPMorgan, deutet vieles auf eine bevorstehende Abkühlung hin. „Die Rallye seit April war beeindruckend, aber sie hat an Breite und Momentum verloren“, sagte Hunter gestern im Gespräch mit CNBC.
Hunter zählt zu den erfahrensten Technikanalysten an der Wall Street. Seine Diagnosen beruhen auf Mustern, nicht auf Meinungen – und aktuell sieht er ein klares Muster: Rallye-Erschöpfung. Sowohl der S&P 500 als auch internationale Leitindizes seien seit Mitte Mai in enge Handelsspannen übergegangen. „Das spricht für eine kurzfristige Korrektur“, so Hunter. Sein Kursziel für eine Rücksetzung liegt bei 5.800 bis 5.700 Punkten – etwa fünf Prozent unter dem aktuellen Niveau.
Noch kein Verkaufsdruck – aber „die Märkte sind anfällig“
Warum ist der Rückschlag bislang ausgeblieben? Hunter liefert eine überraschend pragmatische Erklärung: Die Positionierung ist schlicht nicht überdehnt. Die spekulative Community sei nicht übermäßig long, Nachzügler seien nur moderat engagiert. Und die Retail-Anleger, die die Rallye getragen haben? „Die müsste man schon zum Verkauf zwingen – sie steigen freiwillig nicht aus“, sagt Hunter.
Das bedeutet: Die erste Verkaufswelle müsste von den Profis kommen. Und genau darauf wartet er. Der aktuelle Stillstand sei daher kein Zeichen von Stärke, sondern eher ein Aufschub. „Die Märkte sind anfällig. Es fehlt nur der Trigger.“
Anleihemärkte im Schatten der Erwartungen
Noch spannender als der Aktienmarkt ist für Hunter derzeit die Entwicklung im Bond-Segment. Während das kurze Ende der US-Zinskurve seit Wochen 3 bis 4 Zinssenkungen einpreist, zeigt das lange Ende eine andere Bewegung: steigende Risikoprämien und ein struktureller Vertrauensverlust in die fiskalische Disziplin der USA.
Hunter argumentiert dabei technisch: Aus seiner Sicht hat die 30-jährige US-Staatsanleihe eine Topbildung bei den Renditen vollzogen. Sollte die Rendite unter die Marke von 4,80 Prozent fallen – derzeit notiert sie knapp darüber –, sei ein Rückgang bis auf 4,55 Prozent wahrscheinlich. Eine Bewegung, die derzeit kaum jemand auf dem Zettel hat. „Das wäre ein klarer Konter zum aktuellen Marktnarrativ“, so Hunter. Genau auf solche Setups wartet Hunter, weil sie antizyklisch und technisch sauber sind.
Zykliker unter Druck, Anleger rotieren zurück in Mag 7
Und wie sieht es auf Sektorebene aus? Auch hier bleibt JPMorgans technischer Chefanalyst nüchtern. Zyklische Werte – insbesondere Rohstofftitel und Small Caps – seien dagegen charttechnisch angeschlagen. Viele Rohstoffpreise notierten unter den Unterstützungen aus dem Frühjahr. „Bei Basismetallen ist die Luft raus“, so Hunter. Einzige Ausnahme: Energie. Öl hat die Marke von 80 Dollar zurückerobert, was angesichts geopolitischer Spannungen keine Überraschung ist.
Der Kapitalfluss gehe aber tendenziell zurück in Qualitätswerte, sagt Hunter – also in die etablierten Wachstumstitel, zu denen auch die „Magnificent 7“ zählen. Die große Rotation zurück in Risiko scheint vorerst gestoppt.
Es braucht nicht viel für eine Trendwende
Die technische Großwetterlage hat sich also gedreht, auch wenn die Märkte es noch nicht zeigen. Jason Hunters Analyse kommt ohne Alarmismus aus, aber sie ist klar in ihrer Aussage: Der Markt hat das Potenzial für eine Korrektur – und sie könnte bald beginnen. Anzeichen dafür gibt es viele: enge Spannen, schwindende Marktbreite, ermattete Zykliker.
Der Auslöser? Noch unklar. Aber die Marktarchitektur ist bereitet. Die noch spannendere Frage wird sein, ob der Rücksetzer – falls er kommt – als Einstiegschance gesehen wird. Denn auch das gehört zu Hunters Analyse: Er sieht eine Korrektur, aber keinen Crash.