Ich habe 16 Jahre lang einen Super-Job gehabt und bis auf ganz wenige Situationen auch immer jede Menge Spaß dabei", sagt Martin Richenhagen, lehnt sich zurück, faltet die Hände über der Trachtenweste und lächelt zufrieden in die Runde. Dann wird der 68-Jährige doch ein bisschen wehmütig beim Abendessen im Hotel Weitblick in Marktoberdorf: "Ist schon schade, dass man viele Leute nicht mehr treffen wird." Am nächsten Tag wird er auf der Jahrespressekonferenz des Allgäuer Traktorenbauers Fendt noch einmal die Eröffnungsrede halten. Freunde, Geschäftspartner, auch Chefs von Konkurrenzunternehmen hatte er dazu eingeladen. Die meisten hatten zugesagt zu dem Termin Mitte Oktober.
Doch viele werden nun nicht kommen - Corona. Und Richenhagen, der souveräne Boss, der gute Kumpel, der so viel Wert auf persönliche Kontakte legt, darf keine Hände schütteln, keine Schultern klopfen, niemanden umarmen. Die Pandemie verleidet Richenhagen seine Abschiedstour. Berlin stand eigentlich noch auf der Agenda, Paris, eventuell auch ein Besuch im italienischen AGCO-Werk in Breganze. Jetzt alles ungewiss. "Na, dann bleibe ich halt einfach noch ein paar Wochen in Deutschland", raunzt Richenhagen. Weihnachten aber will er zu Hause feiern. Daheim auf der Farm Hidden Pines bei Atlanta im US-Bundesstaat Georgia. Denn nach mehr als 16 Jahren an der Spitze des US-Konzerns AGCO ist Richenhagen längst auch amerikanischer Staatsbürger. Und ab 1. Januar 2021 Rentner.
AGCO, das weltweit tätige US-Unternehmen mit rund zehn Milliarden Dollar Jahresumsatz, ist den meisten Deutschen kein Begriff. Dafür kennt man die Traktoren von Fendt: grün mit roten Felgen, weißem Kabinendach. Wer als Landwirt etwas auf sich hält, der hat einen Fendt auf dem Hof, besser zwei. 1997 wurde das Familienunternehmen aus dem Allgäu, das mit dem "Dieselross" deutsche Landtechnikgeschichte schrieb, an die Amerikaner verkauft. Technologisch waren die Fendt-Traktoren auch damals schon führend, die Qualität das, was Mercedes mal bei Autos war. Doch die zwei Eignerfamilien waren sich nicht grün, persönlich nicht und auch nicht bei der Geschäftsstrategie. "Der Kauf durch AGCO war ein großes Glück für Fendt und für uns", berichtet ein Familienmitglied später, "wir hätten finanziell wohl kein Jahr mehr durchgehalten."
"2020 werden wir das zweitbeste Ergebnis der Firmengeschichte schreiben", vermeldete Fendt-Chef Christoph Gröblinghoff stolz auf der Pressekonferenz in Marktoberdorf Anfang Oktober. Gut 18.750 Fendt-Traktoren sollen bis Jahresende verkauft sein, trotz wochenlanger Produktionsausfälle, weil Zulieferer wegen Corona vorübergehend schließen mussten. Ein Grund für den Erfolg sei die Markteinführung der großen Fendt-Schlepper in Märkten wie Nord- und Südamerika oder Südafrika.
"Die Farmer haben erkannt, dass sie mit unseren Maschinen und nur zwei Achsen all das können, was sie bisher nur mit riesigen Raupen geschafft haben", ergänzt Martin Richenhagen. "Wir haben einfach die Besten, das muss man in aller Bescheidenheit schon mal sagen."
Die deutsche Tochter Fendt, das ist die Cashcow im AGCO-Konzern. Und überhaupt sind die Amerikaner, deren Aktien auch Investorenlegende Warren Buffett im Depot hat, recht deutsch geprägt. Entstanden ist das Unternehmen durch einen Management-Buy-out im Jahr 1990.
Eine Milliarde ins Niemandsland
Klöckner-Humboldt-Deutz (KHD) hatte Ende der 1950er-Jahre angefangen, seine Traktoren der Marke Deutz-Fahr auch in den USA zu verkaufen. 1985 wurde dem Kölner Traditionskonzern ein vermeintliches Schnäppchen angeboten: Für 85 Millionen US-Dollar kaufte KHD den Bereich der Traktoren- und Mähdrescherfertigung der US-Marke Allis Chalmers. Mit im Paket: ein Netzwerk mit 1.400 Händlern, eine Großtraktoren-Baureihe, die Gleaner-Mähdrescher und Bodenbearbeitungsräte. Praktisch die ganze Landtechnikpalette, in der Branche Full Liner genannt.
Der Deutz-Deal aber endete im Desaster, binnen viereinhalb Jahren wanderte mehr als eine Milliarde D-Mark über den großen Teich. Doch die Amis wurden mit den Geräten, zu einem Teil nun made in Germany, einfach nicht warm. Dass sich durch ein Farmen-Sterben in den USA die Umsätze der Landtechnikbranche nach Mitte der 1980er-Jahre halbiert hatten, versetzte dem Unternehmen quasi den Todesstoß. "Umgerechnet kann man also sagen, dass Deutz viereinhalb Jahre lang Tag für Tag mehr als 600.000 Mark ins Niemandsland geschickt hat", heißt es in einer Chronik über das amerikanische Abenteuer der Rheinländer.
40 Landtechnikmarken im Portfolio
Mit dem Fall der Berliner Mauer taten sich 1989 für die Deutschen andere, günstigere Optionen in Europa auf - und für Robert J. Ratliff, den Deutz- Statthalter in den USA. Mit drei seiner Vorstandskollegen kaufte er seinem Arbeitgeber das, was von Deutz-Allis übrig geblieben war, ab. "Als wir das Geschäft übernahmen, war das Einzige, was wir hatten, eine Mähdrescherfabrik in Independence, Missouri, und sonst gar nichts", so der 2017 verstorbene AGCO- Gründer. Zwar hatte sich Ratliff die Versorgung mit Deutz-Traktoren und -Motoren zusichern lassen. Doch kaum war die Tinte unter dem Kaufvertrag trocken, erhöhten die Deutschen wegen der ungünstigen Wechselkurse die Preise um rund 60 Prozent, wodurch die Schlepper für den nordamerikanischen Markt einfach zu teuer waren.
Ratliff blieb nichts anders übrig, als sich für die Traktoren der neuen Marke Allis Gleaner & Co, kurz AGCO, nach anderen Partnern umzusehen. Die fand er zuerst unter anderem bei der italienischen Gruppe SAME-Lamborghini-Hürlimann, alles renommierte Namen der Landtechnik. Auch die noch mit Deutz entwickelten Großtraktoren der Marke White wurden nun in AGCO-Orange lackiert. Obwohl Anfang der 90er die Krise der Landtechnikbranche noch anhielt, stieg der Umsatz von AGCO.
Nach nur zwei Jahren ging der Konzern erfolgreich an die Börse Nasdaq - und Ratliff mit dem frischen Geld auf Einkaufstour. Er sammelte günstig ein, was andere Konzerne wie Deutz gern aus ihrem Portfolio räumen wollten. Bis zur Jahrtausendwende brachte es AGCO so auf rund 40 verschiedene Marken. Wirklich große Wachstumschancen bot der US-Markt damals allerdings nicht, zu rund 70 Prozent wurde er von den Landtechnikgrößen John Deere und Case IH kontrolliert.
Doch dann bot der US-Autozulieferer Varity 1994 Ratliff den Landmaschinenhersteller Massey Ferguson zum Kauf an. Der hatte alles, was AGCO zur Expansion brauchte: Produktionsstätten auch in Europa, Lizenzvergaben an Hersteller rund um den Globus, Joint Ventures etwa mit Renault Agriculture bei der Technikentwicklung. Mit Massey Ferguson verdoppelte sich der Umsatz von AGCO. Vor allem aber war der Gemischtwarenladen aus Duluth, einem Vorort von Atlanta, nun ein Global Player, mehr als die Hälfte des Umsatzes wurde schon im selben Jahr außerhalb der USA generiert.
Der Erfolg der Massey-Ferguson-Akquisition machte Ratliff endgültig zum Shopping-King. Er kaufte Deutz Argentinien, ein paar Landtechniker in Brasilien, eine Fabrik in Mexiko - und schließlich den deutschen Premiumhersteller Fendt. Wie eine verwunschene Prinzessin mussten die Bayern nach den Familienfehden der vorherigen Eigner nur wieder wachgeküsst werden, mit frischen Dollars aus den USA für Investitionen. Denn die Fendt- Ingenieure hatten etliche ungehobene Schätze im Keller, etwa das bis heute erfolgreiche Vario-Stufenlosgetriebe. Dass ausgerechnet Deutz ein wichtiger Motorenzulieferer für Fendt war (und nach wie vor ist), schadete dabei nicht.
Ein Absturz und ein Aufstieg
Zur Abrundung des Portfolios holte Ratliff 2003 noch den finnischen Traktorhersteller Valtra in die AGCO-Familie, die damit auch noch Marktführer im Agrarland Brasilien wurde. Die Skandinavier, die in Europa zu dieser Zeit eher eine Nebenrolle bei Schleppern spielten, hatten mit einem Werk östlich von São Paulo und extrem robusten Maschinen die Farmer vom Amazonas bis zum Iguazu überzeugt und verkauften dort mehr Traktoren als zu Hause. Mit in dem vom Aufzughersteller Kone erworbenen Paket war praktischerweise auch noch der Motorenhersteller Sisu.
Nach 13 Jahren Einkaufstour hatte Ratliff die weltweite Nummer 3 der Branche, nach Deere und der zu Fiat gehörenden Case New Holland, geschaffen. Doch an der AGCO-Spitze klaffte eine für Ratliff schmerzliche Lücke. John Shumejda, einer der Manager, die mit ihm einst AGCO gegründet hatten und seit 1999 CEO, war 2002 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Auf die Liste der Nachfolgekandidaten setzte Ratliff auch einen Deutschen, der ihm Jahr zuvor als Manager beim Wettbewerber Claas aufgefallen war: Martin Richenhagen.
Der war 2002 bei Claas nicht gerade im Frieden gegangen und "parkte", wie er es ausdrückte, beim Bodenbelaghersteller Forbo, um auf eine neue Chance in der Landtechnik zu warten. "Es gab 16 Kandidaten, außer mir alles Amerikaner. Aber das Unternehmen suchte wohl jemanden mit internationaler Ausrichtung. Das war ich", berichtete Richenhagen später einmal dem Magazin "Capital" über sein Schaulaufen vor den amerikanischen Bossen. Schon 2004 verkündete er als neuer Chef stolz, dass AGCO nun in die Liste der "Fortune 500"-Liste der US-Unternehmen aufgenommen worden sei. Und erklärte selbstbewusst, dass sich die AGCO-Umsätze bald denen der Weltmarktführer Deere und CNH annähern würden.
Richenhagen hat nicht zu viel versprochen. Allein bei Fendt hat AGCO zwei Milliarden investiert, Produktionsstätten in China und Nordafrika aufgebaut. In Sambia werden in der "Future Farm" Mechaniker und Landwirte auf die Modernisierung der Agrarwirtschaft in Afrika vorbereitet. Unter Richenhagens Ägide hat sich der Umsatz von ACGO von 1,8 auf mehr als zehn Milliarden US-Dollar gesteigert, der Börsenwert der Holding vervierfachte sich auf bis zu sechs Milliarden Dollar. Klarer Fall: Mission completed.
Vom Theologen zum Manager
Dem Magazin "Capital" erklärte Richenhagen einmal sein Motto: "Ich sage, was ich denke, und ich tue, was ich sage …" Im Gegensatz zur Tradition deutscher Manager, das Thema Politik tunlichst als Tabu zu betrachten, spricht Richenhagen Themen offen an. So bekam etwa Agrarministerin Julia Klöckner von ihm zu hören: "Die Bundeskanzlerin interessiert sich nicht für Landwirtschaft, und ich hoffe, dass sich die Ministerin da nicht so dran hält und sich etwas mehr engagiert. Denn die Bauern haben schon den Eindruck, Sie interessieren sich nicht so richtig für sie." Auch der scheidende US-Präsident wurde von ihm nicht verschont: "Trump ist weder gebildet noch intelligent." Außerdem umgebe sich Trump "mit Spinnern", sei "beratungsresistent". Als Konsequenz legte Richenhagen seinen Posten im President’s Advisory Council nieder.
Richenhagens Karriere war so nicht vorgezeichnet. Nach dem Theologiestudium hatte er als Religionslehrer an einem Gymnasium in Frechen bei Köln angefangen. Weil er begeisterter Dressurreiter war, betrieb er nebenher einen Pferdehof. Einer der Kunden: der Großindustrielle Jürgen Thumann. Der erkannte das Talent des Pädagogen ("Sie wollen sich doch sicher nicht ein Leben lang mit schlecht erzogenen Kindern herumschlagen") und bot ihm einen Job in der Stahlindustrie mit parallelem BWL-Studium an. Richenhagen griff zu und schaffte es zum Konzernchef mit einem zweistelligen Millionengehalt.
Wenn Martin Richenhagen nun das AGCO-Zepter aus der Hand gibt, wird das nicht wirklich ein Ruhestand. Er sitzt im Aufsichtsrat des Gasekonzerns Linde. Zudem wurde er zum Vorsitzenden des Kuratoriums des American Institute for Contemporary German Studies an der Johns Hopkins University gewählt, eine Organisation für wissenschaftliche und sicherheitspolitische Fragen zwischen den USA und Deutschland. Und auch dem Reitsport, zeitlebens seine Berufung, bleibt er in verschiedenen Funktionen erhalten.
Vita:
Martin Richenhagen
Der heute 68-Jährige studierte Theologie, Philosophie und Romanistik, startete als Religionslehrer in seiner Geburtsstadt Köln. Doch dann wechselte er in die Wirtschaft, arbeitete ab 1985 bei Hille & Müller Stahl in Düsseldorf, von 1995 bis 1998 als Vice President des Aufzugherstellers Schindler und von 1998 bis 2002 als Geschäftsführer des Landtechnikherstellers Claas. Seit 2004 ist er CEO bei AGCO.
Unternehmen:
Aktie mit viel Potenzial
Der US-Konzern AGCO (ISIN: US 001 084 102 3) ist mit vier Landtechnikmarken weltweit auf Expansionskurs: Fendt, Massey Ferguson, Challenger und Valtra. Die Tochter GSI ist ein Spezialist für Getreidelager und Geflügelhaltung. Zudem hält AGCO eine Finanzbeteiligung am indischen Landtechnikhersteller Tafe. Neuer CEO ab 2021 ist Eric Hansotia.