Die Sommer von 2011, 2012 und 2015 bildeten die bisherigen Höhepunkte der Euro-Krise, die nur mit Abschaffung des Europäischen Stabilitätsgedankens und dem willig gezückten Portemonnaie der EZB eingedämmt werden konnte.

Der Brexit könnte in der EU Auswirkungen haben wie ein wild gewordener Elefant im Porzellanladen. Wirtschafts- und finanzpolitisch angeschlagen ist sie ohnehin schon wie frühere Boxgegner von Muhammad Ali. Bei derart gravierenden politischen Problemen hat auch die ungehemmte Geldschöpfung der EZB keine Chance mehr. Sind dies nicht genau die Zutaten für einen Horrorfilm an den europäischen Finanzmärkten, der nicht nur einen heißen Sommer 2016, sondern auch einen heißen Herbst, Winter, usw. nach sich zieht?

Im Prinzip ja, aber…heißt es bei Radio Eriwan. Denn es sind Zweifel erlaubt, wie lange es dauert, bis die Briten ausgetreten sind bzw. ob sie überhaupt austreten.

Argument 1: Die Briten wissen, dass sie eine Fehlentscheidung getroffen haben



Ja, die Stimme des Volkes - Vox Populi - hat gesprochen. Das ist die größtmögliche Legitimation in einer Demokratie. Doch bei Entscheidungen dieser dramatischen Tragweite hinterlässt es einen faden Beigeschmack, wenn eine kleine Mehrheit eine große Minderheit dominiert. Großbritannien ist gespalten. Und viele Briten realisieren nun, was sie getan haben. Sie sind auf die Rattenfänger der Brexit-Befürworter reingefallen, die ihnen mit Lügen und Beschönigungen eine durch und durch böse EU-Welt verkauft haben, von der sie wirtschaftlich profitiert haben. Das zentrale Wahlversprechen, wonach die bisherigen Zahlungen Großbritanniens in die EU-Vereinskasse demnächst dem britischen Gesundheitssystem zugutekommen, wurde bereits einkassiert hat. Diese Lüge wird man den Herren Johnson oder Farage ähnlich wie Orangenmarmelade auf englischen Toast immer wieder auf ihr politisches Butterbrot schmieren.

Nach Brexit wird Großbritannien wirtschaftspolitisch zur Insel der Verdammten. Ihr renommierter Finanzplatz wird rasiert wie Schafe auf der englischen Weide im Juni. Die Häuserpreise werden fallen und die Arbeitslosigkeit steigt. Ihr Triple A-Rating, das Großbritannien verteidigen konnte wie die Kronjuwelen ist ebenso wie das British Empire Vergangenheit. Auch die Brexit-befürwortenden Engländer können immer weniger leugnen, dass sie auf egomanische Populisten hereingefallen sind, deren Wirtschaftssachverstand das Niveau einer Packung englischer Butterkekse kaum übertrifft.

Und dann gibt es da noch die reale Gefahr, dass nach Verlust des British Empire jetzt auch noch das Vereinigte Königreich zerschlagen wird wie früher die Sowjetunion. Die Schotten und Nordiren sind nämlich stinksauer, dass sie in Brexit-Geiselhaft genommen werden, obwohl sie deutlich stärker für Bremain als die Engländer für Brexit gestimmt haben.

Schließlich hätte der ehemals stolze britische Löwe Ähnlichkeiten mit meinem alten Kater zu Hause: Dieser hat mittlerweile weder Zähne noch Schwanz und kastriert ist er auch noch. Geradezu symptomatisch für die Krise des Landes ist das Ausscheiden der englischen Fußballmannschaft gegen Island.

Natürlich, es wäre ein Angriff auf die direkte britische Demokratie, wenn jetzt zügig ein neues Votum gestartet würde. Und dennoch wären auch in England Politiker keine Politiker, wenn sie den "Regrexit" von Millionen von Briten, die sich vom EU-Saulus zum EU-Paulus gewandelt haben, nicht in ihre Überlegungen mit einbezögen. Ein zweites Referendum, das zur politischen Gesichtswahrung sicherlich nicht die gleiche Brexit-Frage stellen würde, wird bereits diskutiert.

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Argument 2: Das Brexit-Referendum ist nicht bindend



David "Brexit" Cameron wird als das direkte Gegenteil vom großen Staatsmann Winston Churchill in die Geschichtsbücher eingehen, sozusagen als Anti-Churchill, als politische Super-Niete, der seinem Land mit der Referendums-Idee einen Super-Gau bescherte.

Immerhin hat er Wert darauf gelegt, dass das Referendum rechtlich so wenig bindend ist wie das Versprechen von Kindergartenkindern, später einmal zu heiraten. De facto hat das Votum sicherlich eine moralische Bedeutung, doch de jure ist es nicht mehr wert als eine bessere Umfrage. Nur eine Mehrheit im Parlament kann Großbritannien aus der EU herauslösen. Und jetzt versetzen wir uns in die Gehirnwindungen der Members of Parliament. Würden wir tatsächlich sehenden Auges den wirtschaftlichen Untergang des Landes und die Zerschlagung des Vereinigten Königreichs in Kauf nehmen? Im Zweifelsfall werden sie - eine Mehrheit der Parlamentarier ist ohnehin EU-freundlich - für das Land und nicht im Sinne der verirrten Brexit-Wähler stimmen. Die repräsentative Demokratie würde gegenüber der direkten die Oberhand behalten.

Mit seinem Rücktritt erst im Oktober setzt Cameron bereits auf Zeitgewinn. Erst sein Nachfolger soll die weiteren politischen Geschicke des Landes führen. Mit dieser Notstrategie will Cameron in seinem last summer den Brexit entdramatisieren. Es soll noch viel Wasser die Themse herunterfließen bis konkrete politische Entscheidungen vorliegen. Übrigens, glaubt irgendjemand, dass ein möglicher neuer Premierminister Boris Johnson - manchmal bleibt einem aber auch nichts erspart - das Todesurteil für Großbritannien vollzieht? Schon jetzt drückt er sich doch vor der Drecksarbeit.

All das böte grundsätzlich Möglichkeiten des Herauswindens aus der Brexit-Falle. Aus der Scheidung könnte die anschließende Wiederannäherung werden. Erneute spätere Hochzeit nicht ausgeschlossen. It’s not over until it’s over.

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Britische Hängepartie schädlich, aber ein Zeitgewinn ist auch im Interesse der "Rest-EU"



Der Brexit sorgt einerseits natürlich für politische und finanzwirtschaftliche Verunsicherung, da man nicht weiß, wie es weitergeht. Andererseits, käme es jetzt Ruck Zuck zum Brexit, wäre die "Austreteritis" ein Eisen für EU-feindliche Parteien, das man schmieden muss, solange es politisch heiß ist. In den Niederlanden reichen 300.000 Unterschriften, um ein nationales Referendum einzuleiten. Auch in Dänemark und Italien ist die Neigung für Europa-feindliche Abstimmungen hoch. Und so hat auch Bundeskanzlerin Merkel keine Eile, die Briten schnell vom EU-Hof zu jagen.

In ihrer unnachahmlich nach allen Seiten offenen - Entschuldigung, flexiblen - Art will sie den Brexit aus den Schlagzeilen und aus den Köpfen der Europäer entfernen. Die Kanzlerin will überhaupt erst mit Großbritannien über Brexit reden, wenn die offizielle Austrittsmitteilung aus London vorliegt. Was hart klingt, ist nicht hart gemeint. Was sie sagen will, ist: Lass Dir Zeit David, weil ich Zeit brauche! Gras soll über die Brexit-Sache wachsen. Ruhe im EU-Karton und an der deutschen Exportfront sind ihr viel näher als der Hosenanzug. Im Übrigen weiß sie, dass Deutschland nach britischem Exodus zur noch stärkeren Führungsmacht in der EU aufsteigen würde. Aber sie weiß auch, dass Deutschland dort nicht unbedingt everybody’s darling ist.

Und eindeutig legt sie Wert darauf, einen marktwirtschaftlichen Verbündeten gegen die schuldenverliebten, stabilitätslosen Brüder und Schwestern in der EU irgendwie zu behalten gemäß dem Motto "Freiheit statt Sozialismus".

Selbstverständlich ist man in der EU not amused über den Brexit. Man ärgert sich schwarz über diese unnötige, neue politische Großbaustelle. Um die Wogen aber (finanz-)wirtschaftlich zu glätten und um zumindest eine stabile politische Seitenlage hinzubekommen, könnte die EU Großbritannien eine Art "privilegierte Partnerschaft" gewähren, die die Handels- und Finanzbeziehungen auf eine stabile Grundlage stellt. Allerdings darf dieser Deal nicht so aussehen, als ob Großbritannien auch noch für sein Ausstiegsvotum belohnt würde.

Dann könnte man den Brexit zeitlich weit nach hinten schieben. Bei den Londoner Buchmachern wird es demnächst eine neue Wette geben. Was passiert zuerst? Die Griechen zahlen ihre Schulden zurück oder die Briten treten aus der EU aus?

Überhaupt wird die EZB mit Argusaugen die Entwicklung der Staatsanleiherenditen in den Euro-Staaten beobachten. Sollte der britische Austritts-Virus wie BSE auch andere mögliche Aussteigerländer oder Banken befallen, wird die EZB ihr geldpolitisches Breitbandantibiotikum noch großzügiger verteilen. Sie wird versuchen, alle Finanz- und Bankenprobleme in Liquidität zu ertränken. Eine Schubumkehr der bislang gefallenen Renditen und damit eine neue Staatsschuldenkrise darf es nicht geben. Gleichzeitig ist davon auszugehen, dass die Fed das Wort Zinserhöhung aus ihrem Duden entfernt hat. Niemand wird Öl in das lodernde Feuer der finanzwirtschaftlichen Unsicherheit gießen.

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Brüssel, schau nicht auf das Problem der EU, du bist das Problem



Das Brexit-Votum bringt es ähnlich gnadenlos ans Licht wie die Sonne ungeputzte Fenster: Die EU ist in einer schweren Krise. Man konnte die Familie nicht zusammenhalten. Die Brüsseler Eurokraten mögen jetzt als Verteidigung einwenden, dass die Briten selbst das Referendum angezettelt haben. Und man verweist ja auch immer wieder gern auf die "Wertschätzung" Europas durch viele Engländer, die mit Kopf- und Bauchschmerzen gleichzusetzen ist. Und viele Unverbesserliche auf der Insel glauben immer noch an die Wiedergeburt des British Empire wie Kleinkinder an das Christkind.

Doch Brüssel kann sich nicht aus der Verantwortung stehlen. Plan- statt Marktwirtschaft, die zentral von Brüssel gesteuert wird, erinnert eher an sozialistischen Dirigismus und ist nicht geeignet, warme europäische Sympathien auf der Insel oder sonst wo in der EU aufkommen zu lassen. Um nationale Anliegen hat sich kein Eurokrat zu kümmern. Brüssel muss nicht überall seine Nase reinstecken. Und auch wenn es mittlerweile langweilig klingt: Ohne Reform- und Wettbewerbsfähigkeit gehen wir weltkonjunkturell vor die Hunde.

Und dass aus der Europäischen Stabilitätsunion und Wertegemeinschaft eine Romanische Schuldenunion und ein Egoistenverein geworden sind, sorgt für ähnliche Freude wie ein Besuch des Gerichtsvollziehers. Dazu kommt die Unfähigkeit, EU-Staatsgrenzen zu schützen, Migration Europa-einheitlich anzupacken und eine einheitliche Terrorabwehr hinzubekommen. Stattdessen gibt es in all diesen Bereichen nationale Alleingänge. Und auf die undurchsichtigen und damit undemokratischen Kungeleien in Hinterzimmern, um irgendwie stinkende Kompromisse zu erzielen, hat auch kein EU-Bürger mehr Lust. An all diese Punkte muss man ran, wenn man es zukünftig mit Europa ernst meint.

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Wer jetzt nur mit dem Motto "Mehr Europa wagen" um die Ecke kommt, also mehr Europäischen Einheitsstaat anmahnt, hat nichts begriffen. Mehr Europäische Integration und eine vertiefte Eurozone sind theoretisch großartige Sachen, werden aber in der Praxis mindestens zurzeit abgelehnt. Wenn Politiker jetzt behaupten, man habe die Europäer von den Vorzügen der EU noch nicht überzeugen können, ist das kabarettreif. Sie hatten ihre Chance, nein viele Chancen. Das Volk ist nicht dumm sondern hat ein feines Gespür für Dinge, die in und um die EU falsch laufen. So wie die Sonne sich nicht um die Erde dreht, drehen sich die Bürger nicht um Politiker. Umgekehrt muss es sein.

Wer dennoch weiterhin Selbstgerechtigkeit an den Tag legt, hat in der EU-Politik nichts zu suchen und sollte den Platz frei machen. Mit erfolglosen Trainern in Fußballvereinen macht man es genauso. So ist der englische Fußballtrainer zurückgetreten. Rücktritte auf EU-Ebene würden den EU-Bürgern klar machen, dass man verstanden hat. Doch bei vielen in Brüssel scheinen die Ohropax besonders fest zu sitzen, sie sind politisch auf beiden Ohren taub. Mit ihnen ist aber kein EU-Staat zu machen. Sie riskieren auch den Euro. Ihr Exit ist nötiger als der Brexit.

Bevor man den EU-Dampfer auf neuen Kurs bringt, müssen die alten Kapitäne und Offiziere von Bord. Wer nicht mit der Zeit geht, sollte mit der Zeit gehen! Rechtliche Hinweise / Disclaimer und Grundsätze zum Umgang mit Interessenkonflikten der Baader Bank AG: https://www.bondboard.de/main/pages/index/p/128

Robert Halver leitet die Kapitalmarktanalyse bei der Baader Bank.