Das große Deflationstrauma waren die Jahre 1929 bis 1932 mit der Weltwirtschaftskrise. Ein Experte verrät, ob angesichts stark rückläufiger Inflation jetzt wieder ähnliche Szenarien drohen
Die Inflationsrate in Deutschland geht markant zurück, und erste Stimmen warnen bereits davor, dass das Pendel in den negativen Bereich umschlagen könnte – also Deflation. Die Preise würden dann auf breiter Front sinken statt steigen, wie ansatzweise bereits in China. Was sich für Verbraucher verlockend anhört, wäre für die Wirtschaft brandgefährlich, weil es Abwärtsspiralen auslöst. Experte Friedrich Heinemann vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim erläutert das Risiko.
BÖRSE ONLINE: Wann gab es zuletzt eine Deflation in Deutschland, also negative Inflationsraten?
Friedrich Heinemann: Es hat in der Geschichte der Bundesrepublik immer wieder bei stark fallenden Ölpreisen Monate mit fallenden Preisen gegeben. Bei den Jahresdurchschnitten gab es eine minimale Deflation nur 1986 und eine etwas stärkere 1953 in der damaligen globalen Rezession nach dem Koreakrieg. Das große Deflationstrauma waren die Jahre 1929-32 mit der Weltwirtschaftskrise. Aus diesen Zeiten lässt sich aber heute nicht mehr viel lernen, weil Geldpolitik heute völlig anders denkt und handelt als damals und auch über deutlich vielfältigere Instrumente verfügt.
Wie hoch schätzen Sie derzeit das Risiko einer Deflation in Deutschland ein?
Es ist nicht gänzlich unmöglich, dass ein starkes Zurückschwingen der Energiepreise kurzzeitig zu einer negativen Inflationsrate führt. Insofern ist eine technische Deflation denkbar. Ein solches Phänomen von wenigen Monaten kann man aber nicht ökonomisch als Deflation einordnen. Eine echte Deflation würde erst vorliegen, wenn die Inflationsrate durch sinkende Preise in der Breite des Warenkorbs längere Zeit unter null fällt. Das ist auf absehbare Zeit vollkommen ausgeschlossen. Die aktuell hohen Lohnabschlüsse sorgen für einen erheblichen Preisdruck. Hinzu kommen weitere Trends, die eher für längere Zeit auf steigende Preise hindeuten. Erstens ist das der notwendig steigende Preis für CO2, also die sogenannte fossile Inflation. Zweitens ist das der Trend zur Deglobalisierung und zur Rückverlagerung von Produktion nach Europa, all das treibt die Kosten und die Preise. Drittens wirkt die sich global verschärfende Knappheit von Arbeit preistreibend. Und viertens sind die hoch verschuldeten Euro-Staaten auf niedrige Zinsen und inflationäre Hilfe angewiesen, um eine neue Schuldenkrise zu vermeiden.
Angenommen, die Inflationsrate rutscht dennoch ins Negative. Wie müsste sich die EZB dann positionieren?
Für die EZB ist nicht die Null-Grenze kritisch, sondern schon die Zwei-Prozent-Grenze. Weil die Geldpolitik erst gar nicht in ein Deflationsrisiko geraten will, hält sie mit ihrem Zwei-Prozent-Ziel diesen Sicherheitsabstand zur Nulllinie. Insofern wird die EZB schon handeln und ihre Zinsen senken, wenn sie den Eindruck erhält, dass die Inflation auf längere Zeit deutlich unter zwei Prozent fallen könnte. Aber auch hier gilt: Ein kurzfristiges Absacken der Euro-Inflation unter zwei Prozent, das alleine auf den Basiseffekte der Energiepreise zurückzuführen ist, sollte nicht handlungsleitend sein. Es geht der Geldpolitik immer um den Inflationstrend auf Sicht von ein oder zwei Jahren. Und ich würde die in den kommenden Jahren strukturell preistreibenden Faktoren als sehr bedeutsam ansehen. Insofern rechne ich zwar mit einigen Zinssenkungen, aber eigentlich nicht mit einer raschen Rückkehr der Zinsen auf null. Klar ist aber auch: Wenn ich mich täusche und die Inflation stärker und dauerhafter sinkt als ich das heute erwarte, dann muss die EZB ihrem Auftrag entsprechend auch wieder die Zinsen nach unten schleusen und gegebenenfalls auch wieder mit unkonventionellen Instrumenten wie Wertpapierkäufen gegensteuern.
Und wie wird sich Ihrer Meinung nach die Inflationsrate im kommenden Jahr entwickeln?
Ich rechne mit einem u-förmigen Verlauf. Die Inflation sackt aktuell erst einmal ab, weil die hohen Energiepreise jetzt mehr als ein Jahr zurückliegen. Wenn dann aber der Energiepreisrückgang ein Jahr alt geworden ist, dann wird sich die Lohninflation stärker in der Inflationsrate durchsetzen und die Preise werden wieder rascher steigen. Dem Absacken möglicherweise auch kurzzeitig unter zwei Prozent folgt ein Wiederanstieg in Richtung drei Prozent im Laufe des kommenden Jahres.