Bisher galt an deutschen Arbeitsplätzen das Vertrauensprinzip: Wer wie lange arbeitet, musste nicht erfasst werden, Arbeitgeber und Arbeitnehmer handelten selbst aus, ob die Arbeitszeit überhaupt oder per Stechuhr oder mit einem anderen System kontrolliert wird. Nur Überstunden sowie Sonn- und Feiertagsarbeit mussten per Gesetz bereits dokumentiert werden. Doch nun zwingt ein höchstrichterliches Urteil die Wirtschaft, die Arbeitszeit ihrer Angestellten penibel zu erfassen. Von Carl Batisweiler 

Wie das Bundesarbeitsgericht (BAG) am Dienstag, 13. September, in einer Verhandlung entschied, besteht in Deutschland eine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung. Die Präsidentin des höchsten deutschen Arbeitsgerichts, Inken Gallner, berief sich dabei auf das sogenannte Stechuhr-Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) aus dem Mai 2019. „Wenn man das deutsche Arbeitsschutzgesetz mit der Maßgabe des Europäischen Gerichtshofs auslegt, dann besteht bereits eine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung“, so die Vorsitzende Richterin des Ersten Senats in der Verhandlung.

 Fachleute rechnen nun damit, dass das BAG-Urteil (Aktenzeichen: 1ABR 22/21) weit reichende Auswirkungen auf die Wirtschaft hat. Der zusätzliche bürokratische Aufwand für die Kontrolle, die auch mobile Arbeit sowie das Homeoffice betreffen dürfte, könnte Milliarden Euro kosten. Wie das BAG-Urteil konkret umgesetzt werden soll, ist allerdings noch weitgehend unklar. Zuallererst muss die Regierung eine gesetzliche Grundlage im Arbeitsschutzgesetz schaffen. Das Urteil des EuGH aus Luxemburg, auf den sich das BAG nun beruft und den Gesetzgeber zum Handeln zwingt, nimmt auch keine Rücksicht auf die deutsche Tarifautonomie, das in Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz verankerte Recht der Koalitionen, Vereinbarungen frei von staatlichen Eingriffen über Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen, insbesondere Tarifverträge über Arbeitsentgelt und Arbeitszeit, abzuschließen.