DARMSTADT (dpa-AFX) - Merck-Chefin Belen Garijo kann sich glücklich schätzen. Die Spanierin hat vor nicht einmal einem Jahr einen Konzern übernommen, der von der Corona-Pandemie prächtig profitiert. Man könnte meinen, Merck brummt aktuell auch ohne ihr Zutun. Doch damit ist die Geschichte nur halb erzählt. Zur Lage des Unternehmens, was die Analysten sagen und was die Aktie macht.

ZUR LAGE DES UNTERNEHMENS:

"Die einen ins Töpfchen, die anderen ins Kröpfchen" - auch bei Merck in Darmstadt verfährt man nach dem "Aschenputtelprinzip": Von den vielen Einzelprojekten, die es im Konzern gibt, werden solche mit wenig Erfolgschancen radikal ausgemistet, stattdessen springt die Merck-Führung gerne auf neue Trends auf.

Das zeigt sich aktuell besonders gut an der neuesten Erwerbung des Konzerns unter der seit Mai 2021 amtierenden Chefin Garijo. Soeben hat der Konzern Exelead, einen US-amerikanischen mRNA-Spezialisten für rund 780 Millionen Dollar übernommen - umgerechnet rund 692 Millionen Euro. Die noch recht junge Technologie ist spätestens seit dem Corona-Impfstoff der Firmen Biontech /Pfizer und Moderna auch einem Nicht-Fachpublikum bekannt.

Bereits im vergangenen Jahr hatte Merck den mRNA-Spezialisten Amptec übernommen. Die gesamte Industrie hofft, in Zukunft sogenannte "messenger RNA" auch erfolgreich bei anderen Krankheiten wie etwa Krebs verwenden zu können. Dabei will sich Merck auf dem Gebiet auch als Auftragsforscher etablieren.

Es ist einer der ersten Deals unter Garijo. Damit setzt die Spanierin, die zugleich die einzige Frau unter den Dax -Firmenlenkern ist, die Linie ihrer Vorgänger fort. Merck wurde durch die 17 Milliarden Dollar schwere Übernahme des US-Konzerns Sigma-Aldrich Mitte des vergangenen Jahrzehnts zu einem der führenden Laborzulieferer. Und Garijos direkter Vorgänger Stefan Oschmann setzte mit der Übernahme des US-Halbleiterzulieferers Versum Materials 2019 ebenfalls auf das richtige Pferd. Aktuell profitiert Merck von dem weltweiten Chipmangel, der Halbleiterbereich im Konzern ist zwar noch der kleinste, wuchs zuletzt aber kräftig.

Auch die Pharmasparte wächst dank neuer Medikamente bei Multipler Sklerose und modernen Krebstherapien. Garijo selbst hatte als frühere Pharmachefin die Sparte auf die lukrativeren Arzneien ausgerichtet, auch mit Teilverkäufen. Allerdings gab es zuletzt auch einige Flops in Medikamentenstudien.

Durch die Umbauten ist Merck schon längst kein einfacher Pharma- und Chemiekonzern mehr. In Darmstadt nennt man sich Technologiekonzern, und Garijo geht sogar so weit, Merck zum führenden Techkonzern des 21. Jahrhunderts machen zu wollen. Dafür hatte sie der südhessischen Firma erst kürzlich ehrgeizige Mittelfristziele verordnet und höhere Investitionen angekündigt - auch für Übernahmen.

Bis 2025 will die Merck-Chefin den Konzernumsatz auf rund 25 Milliarden Euro steigern. Allein die zwei vergangenen Pandemiejahre dürften dem Konzern bereits laut Schätzungen einen beeindruckenden Umsatzschub von mehr als 3,4 Milliarden Euro beschert haben - dies wäre ein Zuwachs von mehr als einem Fünftel im Vergleich zum Vorkrisenjahr 2019. Dieses rasante Wachstum ist zwar allen Sparten geschuldet, ganz besonders aber dem brummenden Laborgeschäft von Merck. Denn der Konzern belieferte in der Pandemie zuletzt rund 80 Impfstoffentwickler und -hersteller, darunter auch Biontech aus Mainz.

2021 hatte das Management im Jahresverlauf seine Prognosen gleich mehrere Male erhöht. Zuletzt prognostizierte die Konzernchefin einen Umsatzanstieg auf 19,3 bis 19,85 Milliarden Euro nach rund 17,5 Milliarden im Jahr 2020, aus eigener Kraft soll das Plus 13 bis 15 Prozent betragen. Der bereinigte Betriebsgewinn soll von 5,2 Milliarden im Vorjahr auf 6,0 bis 6,3 Milliarden Euro wachsen. Es wäre das zweite Rekordergebnis in Folge für Merck. Am kommenden Donnerstag (3. März) wird der Konzern seine Bilanz offiziell vorstellen.

DAS SAGEN DIE ANALYSTEN

Die Mehrheit der 19 Branchenkenner, die seit der letzten Quartalsvorlage von der Finanz-Nachrichtenagentur dpa-AFX erfasst wurden, ist positiv gestimmt: Zehn Kaufempfehlungen stehen allerdings auch acht neutrale Voten gegenüber. Zudem gibt es eine Verkaufsempfehlung. Diese stammt von der US-Bank Goldman Sachs, deren Analyst Keyur Parekh schon seit langem den Daumen gesenkt hält. Das durchschnittliche Ziel der Experten liegt bei rund 227 Euro und damit deutlich über dem zuletzt kräftig geschrumpften Kurs der Aktie.

Im vergangenen Jahr, als Mercks Bewertung noch deutlich höher lag, hatte gerade dies vielen Analysten Kopfzerbrechen breitet. Die UBS gab nun jüngst ihre Verkaufsempfehlung auf und stuft das Papier mit "Neutral" ein, Analyst Michael Leuchten hob zwar sein Kursziel, ruft mit 175 Euro aber den niedrigsten Wert auf. Die Bewertung der Aktien habe sich normalisiert, schrieb er zur Begründung. Der Markt preise inzwischen ein, dass sich der Beitrag der Corona-Pandemie zum Geschäftsergebnis normalisiere.

Richard Vosser von der US-Bank JPMorgan schaut unterdessen weiterhin sehr optimistisch auf die Aktie. Er bestätigte erst kürzlich seine Kaufempfehlung mit dem unverändert hohen Kursziel von 270 Euro. Der Experte verspricht sich von Merck ein starkes Schlussquartal, wobei die Laborsparte erneut als Treiber fungiert haben dürfte - das Wachstum aber durch sämtliche Divisionen gehe. In der Pharmasparte sollten die neueren Medikamente wie das Multiple-Sklerose-Mittel Mavenclad und die Krebstherapie Bavencio für Schwung sorgen. Aber auch das Geschäft mit Medikamenten für Frauen mit Schwangerschaftswunsch bleibe nach dem pandemiebedingten Einbruch im Vorjahr weiter auf Erholungskurs, glaubt der Analyst.

Der JPMorgan-Experte liegt nach eigenen Angaben um sechs Prozent über den aktuellen Markterwartungen für 2021, und auch die durchschnittliche Prognose seiner Kollegen für das laufende Jahr hält er für zu niedrig.

Der Merck-Konzern rechnete zuletzt auch für 2022 mit Rückenwind durch die Pandemie - und sogar im Bereich der Laborsparte mit einem noch höheren Beitrag als im vergangenen Jahr. Auch Daniel Grigat vom Analysehaus Stifel traut Merck 2022 ein weiteres Rekordjahr zu. Die jüngsten Sorgen am Markt um einen womöglich nachlassenden Rückenwind durch die Pandemie teilt er nicht. "Alle drei Sparten laufen gut", so Grigat.

DAS MACHT DIE AKTIE (Stand: 1.3., 12 Uhr)

An der Börse galt das Merck-Papier lange als Corona-Gewinner, doch in diesem Jahr nahm der Höhenflug ein jähes Ende. Das Szenario der Investoren, wonach die Pandemie zu einer auf bestimmte Populationen und Regionen begrenzten Endemie werden könnte - der Bedarf an Covid-19 Produkten also sinkt - lastete schwer auf der Aktie.

Dabei erwischte es nicht nur Merck im Dax, auch andere Corona-Profiteure ließen kräftig Federn, beispielsweise auch der Laborzulieferer Sartorius . Vom Rekordhoch bei 231,50 Euro Ende Dezember hat das Merck-Papier mittlerweile ein Viertel an Wert verloren. Zuletzt kam noch der allgemeine Einbruch wegen des Ukraine-Kriegs hinzu. Aktuell notiert das Papier bei rund 173 Euro.

Dank der Kursrally im vergangenen Jahr kommen Investoren aktuell auf Sicht von zwölf Monaten aber immer noch auf einen Zuwachs von rund 27 Prozent. Und wer beispielsweise zum Zwischentief im März 2018 bei knapp 75 Euro eingestiegen ist, hat seinen Einsatz mehr als verdoppelt. Auch damals herrschte an der Börse Unsicherheit über Mercks Zukunft: Das Flüssigkristallgeschäft, in dem Merck lange Weltmarktführer war, wurde von asiatischer Konkurrenz bedroht. Der Umbau der Materialsparte auf das Halbleitergeschäft war da noch nicht in Sicht.

Längerfristige Anleger sitzen auf noch weitaus üppigeren Gewinnen. Auf Sicht von zehn Jahren ist der Kurs der Aktie auf fast das Viereinhalbfache gestiegen, binnen 20 Jahren hat sich ihr Wert locker verzehnfacht.

Gemessen am Börsenwert schaffte es Merck zuletzt im Dax regelmäßig unter die ersten zehn. Die Marktkapitalisierung der Darmstädter liegt aktuell bei gut 75 Milliarden Euro, womit der Konzern heimische Chemie- und Pharmakonkurrenten wie BASF und Bayer alt aussehen lässt. Im europäischen Vergleich der Pharmakonzerne landet Merck aktuell auf Platz sieben. Die Schweizer Roche auf Platz eins bringt indes mit umgerechnet knapp 280 Milliarden Euro mehr als das Dreieinhalbfache auf die Börsenwaage./tav/jcf/men

Quelle: dpa-Afx