Der Darmstädter DAX-Konzern hat einen großen Umbau hinter sich. In den Zahlen spiegelt sich dieser noch nicht wider. Etwas Geduld könnte sich auszahlen, denn das Kurspotenzial ist hoch.
Er hätte für Merck ein Befreiungsschlag werden können: der Kapitalmarkttag vergangene Woche. Die anfänglichen Kursgewinne konnte die Aktie allerdings nicht halten. Vielmehr drehte das DAX-Papier ins Minus und pendelte sich erst im Bereich der Unterstützungszone 111,25 und 113,35 Euro wieder ein.
Auslöser waren Aussagen des Managements, wonach das operative Ergebnis und der Umsatz 2026 schwächer steigen werden, als von den Marktteilnehmern erwartet wurde. Die mittelfristigen Ziele wurden zwar bestätigt. Dies und das Preisabkommen mit der US-Regierung, Therapien zur künstlichen Befruchtung günstiger anzubieten, löste jedoch keine Kauflaune aus. Der Rücksetzer bietet eine Einstiegschance.
Der in Darmstadt beheimatete Konzern generierte im ersten Halbjahr einen Umsatz von 10,5 Milliarden Euro und ein Ergebnis nach Steuern von 1,4 Milliarden Euro. In den zurückliegenden drei Jahren wurde das Unternehmen unter der Führung von Belén Garijo kräftig umstrukturiert. Im Fokus stand zum einen eine deutliche Kostensenkung. Bis 2027 sollen unter anderem 6000 Stellen gestrichen werden. Zudem wurden die Digitalisierung und die Regionalisierung von Lieferketten vorangetrieben.
Merck generierte im ersten Halbjahr 2025 rund 30 Prozent des Umsatzes in Europa, rund ein Viertel steuerten die USA bei, und rund ein Drittel der Erlöse entstehen im asiatisch-pazifischen Raum. Die Corona-Pandemie führte weltweit zu akuten Lieferkettenproblemen. Diese Risiken will Garijo reduzieren. Derweil trimmt sie die drei Sparten Life Science, Health Care und Electronics auf wachstumsstarke Geschäftsfelder.
Großes Potenzial bei Bioprocessing
Der Life-Science-Bereich steuerte zuletzt jeweils rund 43 Prozent zum Gesamtumsatz und zum Ebitda bei. In diesem Segment bietet Merck unter anderem Laborausrüstungen und verstärkt Bioprocesslösungen für die Arzneimittelindustrie, wie beispielsweise Reinigungssysteme zur Aufreinigung der Wirkstoffe sowie Prozesschemikalien und -materialien für Zellkulturen und Fermentation.
Dieser Bereich ist zuletzt zweistellig gewachsen. Mit neuartigen Next-Generation-Bioprocessing-Lösungen, die unter anderem KI-gestützte Softwarelösungen nutzen, soll die Markteinführung von Arzneimitteln beschleunigt werden. Mit der in der vergangenen Woche angekündigten Übernahme des Chromatografie-Geschäfts von JSR Life Sciences soll diese Sparte weiter ausgebaut werden.
Nach Einschätzung von Future Market Insights dürfte der Markt für Bioprozesstechnologie von 34,4 Milliarden US-Dollar im Jahr 2025 auf 141,5 Milliarden Dollar 2035 ansteigen. Der Bereich Next Generation Bioprocessing könnte bis dahin ein globales Marktvolumen von rund 44,4 Milliarden Dollar erreichen.
Konkurrenten wie Danaher und Thermo Fisher werden mit dem 24- beziehungsweise 20-fachen Ebitda bewertet. Bei Merck dürfte der Wert nur halb so groß sein. Würde die Life-Science-Sparte mit dem 15-Fachen bewertet, entspräche dies einem Marktwert von rund 37 Milliarden Euro beziehungsweise rund 74 Prozent der aktuellen Marktkapitalisierung. Hier steckt also Wertaufholungspotenzial.
Pharma-Pipeline füllt sich langsam
Healthcare ist das margenstärkste Geschäft von Merck und war für rund 40 Prozent des Umsatzes und die Hälfte des Ebitda verantwortlich. In diesem Segment bündeln die Darmstädter ihr Pharmageschäft, das sich vor allem auf Forschung in den Bereichen Onkologie, Immunonkologie und seltene Erkrankungen konzentriert.
Mit Erbitux zur Behandlung von verschiedenen Krebsarten sowie Mavenclad zur Behandlung von Multipler Sklerose hat Merck zwei Blockbuster-Medikamente, die jeweils über eine Milliarde Dollar Umsatz im Jahr generieren und im zweiten Quartal für knapp 30 Prozent des Umsatzes verantwortlich waren. Beide Medikamente zeigten zuletzt auch ein zweistelliges Wachstum.
Abseits dieser zwei Präparate und des Diabetes-Medikaments Glucophage schwächelt die Produktpipeline. In den zurückliegenden Jahren musste die Entwicklung einer Reihe vielversprechender Kandidaten aufgrund schwacher Ergebnisse in klinischen Studien abgebrochen werden.
Um die entstandene Lücke zu schließen, setzt das Management verstärkt auf Partnerschaften, Einlizenzierungen und Zukäufe wie Springworks Therapeutics im vergangenen Sommer. Zwar musste Merck tief in die Tasche greifen, allerdings brachten die Amerikaner bereits eine US-Zulassung für Ogsiveo, eine Therapie zur Behandlung von seltenen, gutartigen Weichteiltumoren, mit. Im Sommer erhielt Springworks Therapeutics die EU-Zulassung. Ob das Medikament Blockbuster-Potenzial hat, wird sich zeigen. Ziel des Unternehmens ist die Rückkehr zu stetigem Wachstum im Healthcare-Bereich. Akquisitionen dürften weiterhin eine Option sein.
KI soll Elektroniksparte beflügeln
Der gemessen am Umsatz und Ergebnisbeitrag kleinste Bereich bei Merck ist die Electronics-Sparte. Mit dem Verkauf des Surface-Solutions-Geschäfts fokussiert sich Merck mit hochreinen Spezialgasen, Ätz-, Reinigungs- und Beschichtungsmaterialien sowie Produkten, die es ermöglichen, viele kleinere Chips auf engem Raum zu stapeln – was für KI- und High-Performance-Anwendungen wichtig ist – zunehmend auf den Halbleiterbereich.
Im ersten Halbjahr verbuchte diese Sparte aufgrund von Projektverzögerungen einen Umsatz- und Ebitda-Rückgang. Die hohe Nachfrage nach Infrastrukturen für künstliche Intelligenz und entsprechende KI-Halbleiter dürften jedoch dafür sorgen, dass auch diese Sparte mittelfristig auf den Wachstumspfad zurückkehrt.
Garijo hat vergangene Woche einige Anleger enttäuscht. Die Chancen auf eine Rückkehr zu solidem Wachstum – und damit in der Bewertung aufzuholen – sind jedoch gegeben. Anlegern mit der nötigen Geduld bietet das Einstiegschancen.
Hinweis: Der Artikel stammt aus der aktuellen Heftausgabe von BÖRSE ONLINE (43/25), die Sie hier finden.
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