BERLIN (dpa-AFX) - Eine Bürgerinitiative will den Wohnungsmarkt in Berlin in bislang nicht dagewesener Weise umkrempeln: Sie startete am Freitag ein Volksbegehren zur Enteignung großer Wohnungskonzerne. Die Initiatoren setzen sich dafür ein, Immobilienunternehmen mit mehr als 3000 Wohnungen zu "vergesellschaften", also gegen eine Milliardenentschädigung zu enteignen. So soll der Anstieg der Mieten gestoppt werden. Der Senat, so die Forderung, soll dazu ein Gesetz auf den Weg bringen. Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) lehnt das Vorhaben ab, auch die Wirtschaft ist dagegen.

Das Bündnis "Deutsche Wohnen & Co. enteignen" hat nun vier Monate bis zum 25. Juni Zeit, Unterstützerunterschriften zu sammeln. Machen sieben Prozent der Wahlberechtigten zum Berliner Abgeordnetenhaus - also rund 175 000 Menschen - mit, folgt ein Volksentscheid, der wie eine Wahl abläuft. Dieser würde höchstwahrscheinlich parallel zur Bundestags- und Abgeordnetenhauswahl am 26. September stattfinden.

Der Sprecher der Initiative, Rouzbeh Taheri, zeigte sich zuversichtlich, dass die nötige Zahl von Unterschriften trotz Corona- Pandemie zusammenkommt. "Es ist eine historische Situation: Wir können uns in Berlin dieses Jahr entscheiden, eine beachtliche Zahl von Wohnungen dem profitorientierten Wohnungsmarkt zu entziehen und unter demokratische Kontrolle zu bringen", sagte er. "Für uns ist es an der Zeit, die Spekulation mit unseren Wohnungen zu beenden und dadurch auch bezahlbare Mieten für alle Berlinerinnen und Berliner zu schaffen."

Nach Angaben der Initiative wären von einer Enteignung nach den vorgeschlagenen Kriterien etwa 240 000 der rund 1,5 Millionen Mietwohnungen in Berlin betroffen, darunter allein etwa 100 000 des Konzerns Deutsche Wohnen SE. Sie sollen nach ihrem Willen in eine Anstalt öffentlichen Rechts überführt werden. Das Bündnis beruft sich auf das Grundgesetz, demzufolge "Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel" in Gemeineigentum überführt werden können - Vergesellschaftung genannt. Nach Angaben von Verfassungsrechtlern wurde der fragliche Artikel 15 aber noch nie angewandt.

Nach einer Schätzung des Senats würde eine Vergesellschaftung mit Entschädigung zwischen 28 und 36 Milliarden Euro kosten. Die Bürgerinitiative geht hingegen von etwa 8 bis 13 Milliarden Euro aus. Ziel sei eine Entschädigung der Konzerne unter Marktwert. Eine auch von der CDU genannte Entschädigungssumme von bis zu 36 Milliarden Euro nannte Taheri eine "Propagandalüge der Immobilienbranche".

Wie sieht der Finanzierungsplan aus? Die angedachte Anstalt öffentlichen Rechts soll Kredite oder Schuldverschreibungen aufnehmen und innerhalb von 40 bis 45 Jahren aus den Mieteinahmen zurückzahlen. "Das geht ohne Mieterhöhungen, teils sogar mit Mietsenkungen", so Taheri. Bislang flössen in den Konzernen von jedem eingenommenen Euro 36 Cent an die Aktionäre. Das falle bei Vergesellschaftung weg. "Es entstehen keine relevanten Kosten für den Berliner Haushalt. Unser Finanzkonzept ist solide, wenn auch ungewöhnlich."

Wegen zahlreicher Beschränkungen in der Corona-Pandemie sei die Unterschriftensammlung, die aus rechtlichen Gründen nicht online möglich ist, eine "besondere Herausforderung", schilderte Leonie Heine vom Sammelteam. 1750 Unterstützer seien in allen zwölf Bezirken und zusätzlich in sieben Hochschulen aktiv. Hilfe beim Sammeln hätten auch Mieterverein, Bürgerinitiativen, Gewerkschaften und Verbände angekündigt. Die Linkspartei bringt sich ebenfalls ein.

Konkret will die Initiative mit mobilen Ständen auf Straßen und Plätzen "kontaktlos und pandemiesicher" Unterschriften sammeln, zudem etwa über Haushalte von Aktivisten, in Studentenwohnheimen oder über diverse Partner. Und sie hat womöglich noch ein Ass im Ärmel. Denn die Petitionsplattform Change.org macht mit und hat ein Portal im Internet geschaltet, über das Unterschriftenlisten nebst Rücksendeumschlag ausgedruckt werden können. "Change.org kann in Berlin 160 000 Menschen per Mail erreichen", sagte Vorstand Gregor Hackmack.

"Ich sehe das Enteignungs-Volksbegehren nach wie vor kritisch", sagte Regierungschef Müller der Deutschen Presse-Agentur. "In der Wohnraumversorgung brauchen wir einen starken öffentlich kommunalen Sektor. (...) Wir brauchen mehr kommunale Wohnungen", erläuterte er. "Die Wohnungsbauziele können aber nur mit privaten Partnern erreicht werden." 15 000 oder 20 000 Wohnungen pro Jahr zu bauen, werde nicht alleine über die städtischen Gesellschaften funktionieren. "Das Ausschließen privaten Engagements durch Enteignungen ist daher nicht mein Weg", so Müller.

Neben der Immobilienwirtschaft haben sich auch CDU und FDP strikt gegen eine Vergesellschaftung von Wohnraum positioniert, die AfD nannte die Idee am Freitag "ökonomischen Wahnsinn". Umstritten ist, wie verbindlich ein erfolgreicher Volksentscheid für die Politik wäre. Denn ein konkreter Gesetzentwurf stünde nicht zur Abstimmung./kr/DP/stw

Quelle: dpa-Afx