Beate Sander ist eine der be­kanntesten Börsenexpertinnen Deutschlands - und eine der ältesten: Erst mit knapp 60 Jahren kaufte sie ihre ersten Aktien und entwickelte kurz darauf ihre eigene Börsenstrategie. Wenn andere verkaufen, schlägt sie zu. Das hat sie im stolzen ­Alter von 74 Jahren zur Millionärin gemacht. Die aktuelle Unsicherheit an den Märkten ist darum ganz nach dem Geschmack der mittlerweile 81-jährigen oft als "Börsen-Oma" betitelten Ulmerin.

€uro am Sonntag: Sie haben 1996 ­begonnen, an der Börse zu investieren. Ihr Startkapital betrug umgerechnet 30 000 Euro. Wie ist es Ihnen gelungen, daraus innerhalb von nur 16 Jahren eine Million Euro zu machen?
Beate Sander: Ich habe sparsam gelebt und mir nebenbei auch immer noch etwas hinzuverdient. Von dem Geld, das übrig war, habe ich konsequent Aktien gekauft. Und zwar nach der von mir ­erfundenen, ausprobierten und immer mehr verfeinerten langfristigen Hoch/Tief-Mut-Strategie, welche überdurchschnittliche Renditen erzielte.

Was hat es mit dieser Strategie auf sich?
Sie beruht im Interesse der Risikominimierung und Renditemaximierung auf dem Grundgedanken, viele Titel breit nach Ländern, Branchen und Indizes zu streuen und möglichst lange zu halten. Ich kaufe dabei keine Position unter 1000 Euro, weil sonst die Transaktionskosten zu hoch sind und sich Teilverkäufe dann kaum lohnen.

Wie viele Aktien sollte man dafür im Depot haben?
Schrittweise ist das Aktiendepot mengenmäßig zu erweitern, auf 30, 50, 70, vielleicht auch 100 Titel und mehr. Von den besten Titeln wie Nemetschek, ­Sartorius, Eurofins, Samsung, Rational oder Bechtle mache ich bei dreistelligen oder auch vierstelligen Kursgewinnen kleinere Teilverkäufe, um den Gewinn zu sichern und Geld für preiswerte Zukäufe zu haben. Zudem nutze ich den Zinseszinseffekt durch Wiederanlage der Dividenden. Dies funktioniert seit ein paar Jahren immer besser und nahezu perfekt.

Wenn es an den Märkten unruhiger wird wie jetzt, stehen Sie also in den Startlöchern.
Crashs sind der richtige Zeitpunkt, günstig nachzukaufen. Als es an den Märkten wegen der Finanzkrise 2008/ 2009 ordentlich runterging, habe ich zu meinem Mann und meinen Kindern ­gesagt, dass es dieses Jahr keine Geschenke zu Weihnachten gibt, auch keine Geburtstagsgeschenke, dass es aber dafür im darauffolgenden Jahr mehr als das Doppelte gibt. Ich wollte das Geld angesichts der günstigen Kurse lieber in Aktien investieren. Das hat sich gelohnt. An den Märkten ging es nur noch bergauf, und einige Jahre später hatte ich die Million.

Wie wählen Sie Aktien aus?
Ich halte es da wie Warren Buffett: Ich kaufe keine Aktie, die ich nicht bereit wäre, ein Leben lang zu behalten.

Warren Buffett sagt auch, er kauft nichts, was er nicht versteht.
Ich will alles verstehen, und wenn ich etwas nicht verstehe, dann setz ich mich auf den Hintern und lerne so viel, bis ich es verstehe. Ich kenne mich mittlerweile zum Beispiel richtig gut in ­Biotech und Medizintechnik aus. Auch Robotik, künstliche Intelligenz, Cloud-­Computing oder die vernetzte und di­gitalisierte Welt - ich lerne immer noch so viel. Ich muss ein Unternehmen ­mögen, kennen, und wenn ich das ­Geschäftsmodell nicht verstehe, dann tue ich ­alles, um es zu verstehen. Und so habe ich auch immer meine Einhörner ge­funden.

Was verstehen Sie unter Einhörnern?
Normalerweise versteht man darunter ja Start-ups, die milliardenschwer kapitalisiert sind. Für mich sind das Firmen, die es schaffen, herausragende Alleinstellungsmerkmale auszubilden und sich dann zu Kursraketen zu entwickeln.

Solche Unternehmen frühzeitig zu ent­decken ist nicht so leicht.
Manchmal braucht man tatsächlich Glück, wie bei mir mit Nemetschek: Ich hab den Professor Nemetschek kurz nach dem Börsengang kennengelernt und fand das Geschäftsmodell so klasse, dass ich da schon sehr früh eingestiegen bin.

Was sind für Sie aktuell attraktive ­Unternehmen?
Ich hab vor anderthalb Jahren Varta gekauft und damit seitdem 350 Prozent Plus gemacht. Man denkt da zuerst an dicke alte Batterien, aber heute macht Varta Knopfzellen für Hörgeräte und aufladbare Mikrobatterien für kabellose Kopfhörer - angesichts des demografischen Wandels ein Zukunftsmarkt.

Sie investieren auch in etwas abseitigere Märkte, zum Beispiel Russland. Wie ­informieren Sie sich darüber?
Neben ETFs auf BRIC, Ostasien, Lateinamerika und Griechenland suche ich mir gezielt Einzelaktien aus. Es sind keine Nebenwerte, weil hier verlässliche Nachrichten fehlen, sondern nachhaltige, großteils auch dividendenstarke internationale Großkonzerne. In Russland bin ich mit Norilsk Nickel, Lukoil und Tatneft schon seit über einem Jahrzehnt dabei. Hinzugekommen ist beim Russland-Kurzcrash im Februar 2018 neben Zukäufen bei diesen drei Titeln noch Sberbank.

Was kommt bei Ihnen nicht ins Depot?
Ich mag keine Glücksspiele und Wetten, Fracking und grobe Verstöße gegen Umweltschutz und ethische Werte, Ausbeutung oder Missachtung des Klimawandels. Auch Kryptowährung kommt nicht in mein Depot.

Was war Ihr größter Reinfall an der Börse?
Das waren im Bankensektor die Deutsche Bank und die Commerzbank. Zu lange habe ich gedacht, dass sie sich doch noch durchsetzen werden.

Wann verkaufen Sie?
Wenn es sich um einen Schrotthaufen handelt wie Steinhoff und früher Intershop, aber auch enttäuschende Werte wie Solarworld, Mologen und Paion. Dann trenne ich mich komplett von dem Titel. Und sobald etwas sehr Negatives aufkommt wie Betrug, erfundene Umsätze, Bilanzfälschung, geschönte Berichterstattung mit Luftschlössern, Überschuldung oder totales Scheitern in der klinischen Phase 3 bei Biotechwerten. Ich achte aber auf den richtigen Ausstiegszeitpunkt.

Wann ist der?
Habe ich zuvor hohe steuerpflichtige Erträge eingeheimst, bekomme ich vom Finanzamt in prozentual gleicher Höhe den Steuerausgleich für Aktienverluste. Beides beträgt einschließlich der Kirchensteuer und des Solidaritätszuschlags rund 28 Prozent. Ein Verlust von 35 oder 40 Prozent schlägt bei meiner breiten Streuung dann kaum mehr ins Gewicht, zumal ich vorher ja oft sogar noch Dividenden erhalten habe. Nach Abzug des Steuerausgleichs betragen die Verluste dann vielleicht noch fünf bis zehn Prozent oder auch gar nichts. Es lohnt sich, Verkäufe auch steuerlich zu prüfen.

Eines Ihrer Mottos ist: "Meide die gefährlichen vier - Euphorie, Panik, Angst und Gier." Sind Sie Ihrem Motto treu?
Ich erinnere mich selbst an meinen Ausspruch, wenn die Versuchung groß ist, dagegen zu verstoßen. Bislang habe ich immer diszipliniert abgebremst. Das Massenphänomen Herdentrieb richtet bei mir keinen Schaden an.

Weichen Sie nie von Ihrer Strategie ab?
Nein, aber etwas Nervenkitzel erlaube ich mir - allerdings nur bei insgesamt zwei bis drei Titeln mit einem niedrigen Einsatz von etwas über 500 Euro. Hier ordne ich zum Beispiel meine Wasserstoff- und Brennstoffzellen-Aktien ein.

Wie sieht es mit anderen Finanzprodukten neben Aktien aus, beispielsweise zur Absicherung Ihres Depots?
Hebelzertifikate, Optionsscheine und Ähnliches sind und waren für mich ­immer tabu.

Und Gold?
Außer einem Gold- und Edelmetall-ETF habe ich mir schon 2008 drei Goldminenaktien ausgesucht, die nach wie vor gut laufen.

Was bedeutet Ihnen Ihr Vermögen heute?
Als ich durch meine Börsenaktivitäten Millionärin wurde, war ich überrascht und überaus glücklich. Dabei war weniger die Million selbst der Grund für mein Hochgefühl, sondern die Begeisterung darüber, dass meine Anlagestrategie offensichtlich bestens funktionierte. Ich kann diese Idee weitergeben, etwas bewirken, verändern, gestalten und mal so richtig innovativ sein.

Kurzvita

Umtriebige Ex-Lehrerin
Beate Sander ist 81 Jahre alt und arbeitete früher als Realschullehrerin. An Ruhestand denkt die Ulmerin aber längst noch nicht: Als Börsenexpertin schreibt sie Kolumnen, hält Vorträge und gibt Börsen­seminare für Ein­steiger an der Volkshochschule. Zudem ist sie Autorin von über 50 Fachbüchern. Ihr bekanntestes ist der "Börsenführerschein".