Herr Conrad, Chinas Aktienmärkte haben seit Mitte Juli kräftig korrigiert, Börsenwerte in Höhe von 3,4 Billionen Euro gingen verloren. Zuvor waren die Kurse innerhalb eines Jahres um 130 Prozent gestiegen. Wie erklären sich diese extremen Entwicklungen?
Björn Conrad: Chinas Börsen hängen noch stärker als andere Aktienmärkte von politischen Signalen ab. Wirtschaftsdaten beziehungsweise die Gewinnzahlen von Unternehmen dagegen beeinflussen die Kursentwicklung in einem nur geringen Maße. Der Boom in den vergangenen Monaten war von der Regierung gewollt und wurde stark gefördert. Sogar in den Staatsmedien drängte die Regierung auf einen Börsenaufschwung und veranlasste damit viele Chinesen, sich an der Börse zu engagieren. Viele haben dies, obwohl sie nur geringe oder gar keine Erfahrung mit Wertpapieren besaßen, auch getan - oftmals auch mit kredit-finanzierten Aktienkäufen. Sie vertrauten auf die Regierung. Diese werde es schon nicht zulassen, dass es an der Börse kräftig nach unten geht und sie Verluste machen. Eine Blasenbildung hat man in Peking dabei offensichtlich in Kauf genommen.
Warum ist der Regierung an einer boomenden Börse so viel gelegen?
Die traditionellen Wachstumsmotoren beginnen zu stottern. China ist schon lange kein Billiglohnland mehr. Der Export, immer noch die wichtigste Devisenquelle, schwächt sich ab. Nun will und muss man die Binnennachfrage stärken. Auch Innovationen sollen für Wachstum sorgen. Die Börse, so denkt man in Peking, ist ein wichtiges Instrument, um den geplanten Umbau der Wirtschaft voranzubringen.
Privatanleger sollen Aktiengewinne in den Konsum stecken?
Ja. Aber auch kleine, innovative Unternehmen im Technologie-bereich, denen es im Gegensatz zu Staatsunternehmen wesentlich schwerer fällt, von staatlichen Banken Kredite eingeräumt zu bekommen, können sich via Börse Kapital für Investitionen beschaffen. Ebenso profitieren Staatsunternehmen. Viele sind hoch verschuldet. Boomt die Börse, können sie leichter Kapitalerhöhungen durchführen und an neue Finanzmittel gelangen.
Gibt es einen konkreten Auslöser für die Talfahrt?
Um die Aktienkurse zu befeuern, hat die Regierung kreditfinanzierten Aktienkäufen zunächst großen Freiraum gelassen. Viele chinesische Anleger haben sogenannte "margin accounts" eingerichtet, um mit neuen Krediten weitere Aktien zu erwerben. Als die Regierung aber bemerkte, wie intensiv Anleger Aktienkäufe auf Pump finanzierten, versuchte sie, dies strenger zu regulieren. Das löste dann erste Verkäufe aus. Dadurch aber sank der Wert der Depots und damit auch die Sicherheit für den Kredit. Um die nötige Sicherheitseinlage zu halten, waren Anleger wiederum gezwungen, weitere Aktien zu verkaufen, was die Talfahrt beschleunigte. Die Dynamik des Abwärtstrends war so groß, dass es der Regierung erst nach einigen Tagen und mit teilweise extremen Interventionen gelang, den Kursverfall zu stoppen.
Hat die Regierung an Vertrauen verloren?
Ja, vor allem bei Investoren, die erst vor wenigen Wochen eingestiegen sind. Sie machen nun Peking für die herben Verluste verantwortlich. Auch der Glaube an die Allmacht, an die kompetente Lenkungsfunktion der Regierung hat durch den Crash an der Börse schwer gelitten.
Die Regierung macht "kriminelle Drahtzieher" für den Absturz verantwortlich. Ist da was dran?
Die Beweislage ist sehr schwierig. Ich glaube aber, dass hier auch Schuldzuweisungen genutzt werden, um von eigenen Fehlern abzulenken. Auch die Aufnahme von chinesischen Aktien, die in Shanghai notieren, in den MSCI Emerging Markets hat eine Korrektur wohl nicht verhindert. Die Bewertungen waren einfach schon zu hoch.
Inzwischen haben sich die Turbulenzen an den Börsen wieder gelegt. Ist der Sturm vorbei?
Nur fürs Erste. Die Stabilisierung gelang nur durch massive Interventionen seitens der Regierung. Wir haben es nun noch weniger als bereits zuvor mit einem freien Markt zu tun. Über 1400 Unternehmen waren vom Handel ausgesetzt. Auch hat die Regierung Versicherer und Großunternehmen aufgefordert, Aktien zu kaufen. Die Großanleger sind zudem gezwungen, ihre Anteile nach dem Kauf mindestens sechs Monate zu halten. Langfristig ist das aber keine Lösung. Die Rolle, die die Regierung den Börsen eigentlich zugedacht hatte, können sie so keinesfalls erfüllen.
Wirkt sich die Korrektur negativ auf das Wirtschaftswachstum aus?
Kurzfristig sicherlich nicht. Es werden auch in den kommenden Quartalen im Vergleich zu den Industriestaaten höhere Wachstumsraten erzielt werden. Langfristig ist der Börsencrash für die anvisierten Strukturreformen jedoch ein schwerer Schlag, da die Börse als attraktive Finanzierungsquelle für innovative Technologieunternehmen geschwächt ist Der notwendige Schwenk zu mehr Innovation wird dadurch weiter behindert, die wirtschaftliche Dynamik wird schwächer. Für zunächst gescheitert muss man auch den Versuch der Regierung erklären, die Wirtschaft zu liberalisieren, aber dennoch die staatliche Kontrolle zu behalten. Peking steckt in einem schweren Dilemma.
Morgan Stanley warnt: Ein langsamer wachsendes China könnte die Weltwirtschaft in eine Rezession stürzen. Eine realistische Prognose?
Die Warnung muss man sicherlich sehr ernst nehmen. Fällt China als Lokomotive weg, spüren dies viele Länder. Insbesondere die Exportnation Deutschland. Die Automobilindustrie, die Arzneimittelhersteller oder der Maschinenbau müssen sich auf ein deutlich schwächeres China-Geschäft einstellen.
Kann China ein neues Konjunkturprogramm starten?
Bei Weitem nicht mehr so einfach, wie dies im Zuge der globalen Finanzkrise 2007 geschehen ist. Seit 2007 haben sich die Gesamtschulden vervierfacht. Nach Berechnungen des McKinsey Global Institute liegen Chinas Schulden bei 282 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und damit höher als die der USA oder Deutschlands. So hoch sind weder Griechenland noch die USA verschuldet.
Björn Conrad ist stellvertretender Direktor beim Forschungshaus Merics. Zuvor arbeitete er als Climate Change and Environment Officer der United Nations FAO an einer Vielzahl von Umweltprojekten in China und angrenzenden Ländern Ostasiens. Davor war er für die Weltbank Global Environment Facility in Washington tätig. Nach einem Studium der Sinologie, Politikwissenschaft und VWL in Deutschland und China absolvierte Conrad den Master of Public Policy an der Harvard Kennedy School.