Der Wirecard-Skandal offenbart die Notwendigkeit von Reformen der rechtlichen Kontrollmechanismen in- und außerhalb von kapitalmarktorientierten Unternehmen (Emittenten), um die Prävention und Aufdeckung von Betrugsfällen zu optimieren. Doch die Vielzahl der aktuell kursierenden, teils auf Vorverurteilungen beruhenden Reformvorschläge birgt die Gefahr von Schnellschüssen und Überregulierung. Entscheidend ist eine Versachlichung der Debatte anlässlich des Wirecard-Skandals und eine stärker evidenzbasierte Regulierung der Akteure und Mechanismen, die bei deutschen Aktiengesellschaften Bilanzfälschung und sonstige Betrugs- und Untreuetatbestände vorbeugen, aufdecken und sanktionieren sollen. Konkret geht es um Folgendes:

? Erstens um unternehmensinterne Kontrollmechanismen, die letztlich in der Verantwortung von Vorstand und Aufsichtsrat liegen.

? Zweitens um externe Abschlussprüfer und deren Berufsaufsicht, die Abschlussprüferaufsicht APAS, das System der Bilanzkontrolle durch die Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung DPR und die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht Bafin.

? Drittens um weitere Verteidigungslinien bildende Marktmechanismen, zu denen neben Kapitalmarktakteuren wie Investoren und Analysten auch Wirtschaftspresse und Wissenschaft gehören.

Vorstand und Aufsichtsrat bei Betrugsprävention in der Pflicht

In der Öffentlichkeit bestehen bezüglich der rechtlichen Aufgaben, Zuständigkeiten und Befugnisse, aber auch der Anreize sowie der tatsächlichen Möglichkeiten und Ressourcenausstattungen dieser drei "Verteidigungslinien" teils erhebliche Fehleinschätzungen. Vielfach werden Auftrag und Durchschlagskraft stark überschätzt; es liegen sogenannte "Erwartungslücken" vor, die sich im Wirecard-Fall in Enttäuschung und Empörung entluden. So erscheinen unter anderem die folgenden Punkte klarstellungsbedürftig:

? Unternehmensinterne Kontrollmechanismen: Nicht Abschlussprüfer und Aufsichtsbehörden sind in Sachen Betrugsprävention an vorderster Front gefordert. Vielmehr hat zunächst der Vorstand ein System einzurichten, das die Befolgung rechtlicher und ethischer Normen (engl. Compliance) sicherstellt. Der Aufsichtsrat hat die Vorstandstätigkeit zu überwachen. Für die Richtigkeit der Finanzberichterstattung sollte ein qualifizierter und unabhängiger Prüfungsausschuss zuständig sein. In all diesen Belangen offenbarte Wirecard erhebliche Defizite, die seit Langem öffentlich bekannt waren.

? Abschlussprüfer und Bilanzkontrolle: Weder der externe Abschlussprüfer noch DPR und Bafin sind unabhängig von konkreten Anhaltspunkten mit der umfassenden forensischen Aufdeckung aller potenziellen Betrugsmöglichkeiten in Unternehmen beauftragt. Die anlässlich des Wirecard-Skandals öffentlich aufbrandende Systemkritik verkennt daher wichtige rechtliche und tatsächliche Schranken einer "aggressiveren" Vorgehensweise dieser Institutionen. Im Detail hinderte die aktuelle Rechtslage die Bafin daran, ihre Funktion als Bilanzkontrolle früher oder umfassender wahrzunehmen. Die DPR verfügte über keine hoheitlichen Befugnisse und ist daher auf die Zusammenarbeit mit dem geprüften Unternehmen angewiesen. Der externe Abschlussprüfer hat für 2019 das Testat verweigert.

Insgesamt ist die Bilanzprüfung somit nicht auf Ad-hoc-Maßnahmen und schnelles Eingreifen ausgelegt, sondern primär auf eine turnusmäßige Prüfungsroutine. Diese hat für das Prüfungsjahr 2019 auch nicht versagt - der Turnus war lediglich "zu langsam". Im Übrigen konnte die Bafin wegen der Einstufung der Wirecard AG als Industrieunternehmen und nicht als Finanzholding auch ihr bankaufsichtsrechtliches Instrumentarium nicht entfalten. Diese Umstände haben wohl auch im Fall Wirecard zu einer als "zahnlos" wahrgenommenen Überwachung (nicht nur) der Finanzberichterstattung beigetragen.

? Marktakteure: Investoren und Analysten, aber auch Journalisten und Wissenschaftler handeln ohne gesetzliches Mandat aufgrund individueller Anreize und können daher nicht auf staatliche Ressourcen und interne Informationen zurückgreifen. Trotz dieser Nachteile spielen sie eine wichtige Rolle bei der Aufdeckung von Betrugsfällen. Auch bei Wirecard waren es die Finanzpresse ("Financial Times") und einzelne institutionelle Marktteilnehmer (Investoren), die erste Hinweise auf Fehlverhalten öffentlich machten.

Gefahr von Schnellschüssen und Überregulierung

Der Wirecard-Skandal bietet definitiv Anlass, die Elemente des hier beschriebenen dreistufigen Systems kritisch zu überprüfen. Vieles wirkt änderungsbedürftig. Zwar erscheint krisenbedingt Eile geboten. Dennoch sollten konkrete Maßnahmen vor Umsetzung daraufhin geprüft werden, inwieweit sie drei Arten von Voraussetzungen erfüllen: rechtliche Umsetzbarkeit, wirtschaftliche Sinnhaftigkeit und wissenschaftliche Vertretbarkeit. Nach unserer Einschätzung scheint dies für folgende Maßnahmen zuzutreffen:

? Unternehmensinterne Kontrollmechanismen: Studien zeigen, dass Compliance-Verantwortlichkeiten auf Vorstands- sowie qualifizierte und unabhängige Prüfungsausschüsse auf Aufsichtsratsebene die Unternehmensführung (engl. Corporate Governance) verbessern. Zudem können unternehmensinterne Hinweisgeber, wenn sie angemessen (auch finanziell) incentiviert und hinreichend geschützt werden, entscheidend zur frühzeitigen Verhinderung und Aufdeckung von Betrugsfällen beitragen. Als prägender Überbau spielt hier die Unternehmenskultur eine entscheidende Rolle; gleichwohl ist ebendiese für Außenstehende nicht nur schwierig zu beurteilen, sondern auch kaum von außen zu "verordnen".

? Abschlussprüfer und Bilanzkontrolle: Nahe liegt in diesem Bereich, der Bafin unmittelbar greifende, eigene Prüfungsrechte gegenüber Emittenten unabhängig von der DPR einzuräumen, gegebenenfalls flankiert von einer besseren Ausstattung der Bilanzkontrollinstitutionen. Weit weniger klar ist die Evidenzlage bezüglich der Frage, ob die Höchstdauer von Prüfungsmandaten verkürzt oder die Beratung durch den Abschlussprüfer verboten werden sollte.

? Marktakteure: Für Kapitalmarkt, Presse und Wissenschaft ist der Zugang zu Informationen entscheidend, aus denen sie Schlüsse ziehen und neue Informationen generieren können. Insofern sollten Unternehmensumfeld und Kontrollstrukturen transparenter werden. Dass Transparenzvorschriften zudem eine verhaltenslenkende und disziplinierende Wirkung entfalten können, erscheint wissenschaftlich gesichert.

Im Interesse einer Versachlichung der Debatte und einer stärker evidenzbasierten Regulierung sollten die nun zu treffenden Maßnahmen idealerweise auf eine Weise eingeführt werden, die eine spätere Wirksamkeits- und Effizienzprüfung durch neutrale Wissenschaftler ermöglicht.

Bernd Geier:

SRH Hochschule Heidelberg

Professor für Wirtschafts-, Bank- und Kapitalmarktrecht sowie Regulierung

Thorsten Sellhorn:

Ludwig-Maximilians- Universität München

Professor für Rechnungswesen und Wirtschaftsprüfung