Es gibt wichtige Leute in der Bundesregierung, die beschleicht beim Wort "Brexit" kaltes Grauen. Dass die Briten sich beim Referendum am 23. Juni für ein Ausscheiden aus der Europäischen Union (EU) entschließen könnten, hielten sie noch vor kurzem für abwegig. Inzwischen wollen auch sie es nicht mehr ausschließen. "Einen Plan B für den Fall eines Brexit haben wir nicht in der Schublade - und zwar mit Absicht und ganz bewusst", versichert ein ranghohes Regierungsmitglied tapfer. Doch kann man das glauben? Denn ein EU-Aus des Vereinigten Königreichs würde im restlichen Europa vor allem Deutschland direkt treffen. "Deutschland wäre der größte Verlierer, weil Großbritannien ein sehr großer Markt für unsere Exportprodukte ist", warnt Ifo-Präsident Clemens Fuest.

Die Experten der DZ Bank haben ausgerechnet: Im schlimmsten Fall drohen der deutschen Wirtschaft allein bis 2017 Einbußen von bis zu 45 Milliarden Euro. Um den Jahreswechsel könnte sie in eine Rezession rutschen. "Für die deutsche Wirtschaft steht viel auf dem Spiel", sagt auch DZ-Bank-Ökonomin Monika Boven. Vor allem dann, wenn die Konjunktur auf der Insel in die Knie geht. "Ein Teufelskreis aus Währungsabwertung, Kursverlusten an Renten- und Aktienmärkten und verschreckten ausländischen Investoren könnte zu einer Schockstarre im Finanzsektor führen und über eine 'Kreditklemme' rasch die Realwirtschaft erreichen", sagt Boven. Das bekäme die deutsche Wirtschaft sehr rasch zu spüren.

Das Vereinigte Königreich ist der weltweit drittwichtigste Absatzmarkt für deutsche Exporteure - nach den USA und Frankreich, aber noch deutlich vor China. Waren im Wert von fast 90 Milliarden Euro verkauften die deutschen Unternehmen im vergangenen Jahr auf die Insel. Das wird zwar im Falle eines EU-Abschieds nicht von heute auf morgen wegbrechen. "Aber es würde dann richtig teuer", sagt Gabriel Felbermayr, der am Ifo-Institut das Zentrum für Außenwirtschaft leitet.

Im schlimmsten Fall würde der Freihandel gestoppt, Regeln für den Binnenmarkt fielen weg, Zollschranken würden errichtet. Dutzende Details müssten neu verhandelt werden: Allein mit der Schweiz - die ebenfalls nicht zur EU gehört - gibt es etwa 120 Abkommen, die den direkten Zugang der Eidgenossen zum EU-Binnenmarkt regeln. "Es würde Jahre dauern, die Verträge für Großbritannien auszuhandeln", sagt Felbermayr. Export-Europameister Deutschland würde das am meisten zu spüren bekommen. Besonders die Auto- und Chemieindustrie sowie die Maschinenbauer wären die Leidtragenden, entfallen doch mehr als die Hälfte der deutschen Ausfuhren nach Großbritannien auf diese drei Branchen.

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"AUSTRITT WÄRE BESONDERS SCHMERZHAFT"



Hinzu kommt: "Großbritannien war im vergangenen Jahr einer der stärksten Wachstumsmärkte", sagt der Chefvolkswirt des Verbandes Deutscher Maschinen- und Anlagenbauer (VDMA), Ralph Wiechers. "Gerade jetzt wäre ein Austritt daher besonders schmerzhaft." Besonders betroffen wären auf Grund ihrer relativ hohen Exporte die Fachzweige Fördertechnik, Landtechnik und Antriebstechnik. Auch der Verband der Chemischen Industrie (VCI) sieht in einem Brexit ein "signifikantes Risiko".

Die Gewinne vieler deutscher Unternehmen dürften bei einem Brexit ebenfalls schrumpfen. Ihre Direktinvestitionen im Vereinigten Königreich - von Fabriken bis Maschinen - summieren sich auf etwa 121 Milliarden Euro. Das entspricht rund sieben Prozent der gesamten deutschen Direktinvestitionen im Ausland. Die meisten Experten sind sich sicher, dass das britische Pfund im Falle eines Brexit kräftig abwerten würden. "Das würde vermutlich Abschreibungen bei den Direktinvestitionen nach sich ziehen und die Gewinne deutscher Unternehmen schmälern", sagt Analystin Sintje Boie von der HSH Nordbank.

Betroffen wären einige der größten deutschen Konzerne, die kräftig im Vereinigten Königreich investiert haben: vom Reisekonzern TUI Travel über die beiden Discounter Aldi und Lidl, den Energiekonzern E.ON, den Versicherer Allianz und bis hin zum Autozulieferer Robert Bosch. Auch der Autobauer BMW hat viel Geld investiert - vor allem in seine Tochter Rollce Royce und in die Produktion des Mini. "Wir warten ab und treffen dann eine Entscheidung", betont Betriebschef Ian Robertson zum zukünftigen Engagement.

Viele deutsche Unternehmen rechnen selbst dann noch mit negativen Folgen, sollte Großbritannien die EU nur als politische Einheit verlassen und Mitglied des Binnenmarktes bleiben - ähnlich wie Norwegen und die Schweiz. Allerdings hat die EU dies bereits ausgeschlossen. Einer Umfrage im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung unter rund 400 deutschen Firmen zufolge erwarten 39 Prozent negative Folgen für Beschäftigung und Arbeitslosigkeit im Heimatland. Fast jedes dritte Unternehmen würde damit liebäugeln, entweder seine Kapazitäten in Großbritannien zu verringern oder von der Insel weg zu verlagern. Besonders groß ist die Neigung bei IT-Firmen und in der Finanzbranche.

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CHANCEN FÜR FRANKFURT UND BERLIN



Darin liegt wiederum eine Chance für den Standort Deutschland: Der Finanzplatz Frankfurt würde einer Umfrage der globalen Finanzvereinigung ACI unter 12.000 Mitgliedern zufolge von einem Brexit am stärksten profitieren. Demnach wäre Londons Rolle als weltweit führender Devisen-Handelsplatz gefährdet. "Bei einem Austritt Großbritanniens aus der EU können die Behörden der Euro-Zone nicht länger tolerieren, dass ein großer Anteil von Finanztransaktionen im Ausland abgewickelt wird", betont Christian Noyer, ehemaliger Vize der Europäischen Zentralbank (EZB).

Auch Berlin winkt eine Aufwertung als Firmenstandort. Die Hauptstadt dürfte zwar nicht massenweise Londoner Banker anlocken. Aber sie hat Chancen, sich zu einem wichtigen Biotop für neu gegründete Finanzunternehmen aus der Internet- und IT-Welt (Fintechs) zu mausern. Noch handelt es sich dabei nur um Zwerge verglichen mit den großen Geldhäusern, sie bilden jedoch eine der wachstumsstärksten Branchen der Welt.

Für Großbritannien dürfte ein Austritt daher teuer werden. Das könnte dem arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW) langfristig zu einem Einbruch des Bruttoinlandsproduktes von zehn Prozent und mehr führen. "Der wirtschaftliche Schaden für das Vereinigte Königreich könnte bei einem EU-Austritt höher ausfallen als viele meinen", sagt IW-Ökonom Jürgen Matthes. Und das könnte zu einem Dominoeffekt führen. Der bilaterale Handel mit dem wirtschaftlich eng verflochtenen Irland etwa könnte um ein Fünftel einbrechen, befürchtet das dortige ESRI-Institut.

"Während Großbritannien in eine leichte Rezession rutschen könnte, dürfte auch der Aufschwung in der restlichen EU einen erheblichen Dämpfer erhalten", warnt der Chefvolkswirt der Berenberg Bank, Holger Schmieding. Für Deutschland wären auch das schlechte Nachrichten, gehen doch mehr als die Hälfte der Exporte in die EU. "Wie lange diese Schwächephase anhalten und wie ausgeprägt die Verluste sein werden, hängt vor allem davon ab, ob und wann die Unsicherheit nachlassen kann", sagt Schmieding.

Kein Wunder also, dass die Bundesregierung gebannt auf das Referendum schaut. Umfragen sagen ein Kopf-an-Kopf-Rennen von Gegnern und Befürwortern eines Brexit voraus. Vielleicht wäre es doch besser, einen Plan B in der Schublade zu haben.

Reuters