Essay Mit Abklingen der Corona-Pandemie zieht die Wirtschaft in vielen Ländern bereits wieder an. Doch nun bremst nicht ein Virus, sondern Materialmangel

In kaum einem Thema verdichten sich die aktuellen Herausforderungen der globalen Finanzmärkte wie im Halbleiterengpass. Die Weltwirtschaft hat derzeit mit einer noch nie erlebten Knappheit an elektronischen Bauteilen zu kämpfen. Bis zu einer Normalisierung der Lieferketten dürfte es noch einige Quartale dauern.

Die Hersteller gerieten erstmals unter Druck, als im zweiten Quartal 2020 die Industrienachfrage in China nach dem Lockdown wieder kräftig anzog. Gleichzeitig hat der Wettbewerb der größten chinesischen Smartphone-Hersteller zu strategischen Komponentenkäufen geführt. Im vierten Quartal zog die Automobilnachfrage an, und der Trend hin zu Elektroautos heizte die Nachfrage nach Halbleitern zusätzlich an. Ebenso sorgte der erhöhte Absatz von Computern und Unterhaltungselektronik während des Lockdowns für einen konstant hohen Bedarf. Extreme Wetterereignisse im Februar führten zu Produktionsausfällen bei Komponentenfabriken.

Der Halbleitermarkt wird mittlerweile von einem Duopol beherrscht: TSMC (Taiwan) und Samsung Electronics (Korea). Ihre Werke stellen damit das Nadelöhr in der gesamten globalen Halbleiter-Lieferkette dar. Mit prall gefüllten Auftragsbüchern können sie die Preise erhöhen, sich auf das rentabelste Segment der ultrakleinen Chips konzentrieren und sich ihre Kunden aussuchen. Hierzu zählen beispielsweise Apple, Qualcomm, Nvidia, AMD oder Mediatek. Die jüngste Ankündigung von Intel, 20 Milliarden US-Dollar in die Halbleiterfertigung zu investieren, ist daher als technologische "Kampfansage" an die etablierten Anbieter zu verstehen.

Halbleiter tragen mittelbar rund zwölf Prozent zum Bruttoinlandsprodukt der USA bei. Die Verknappung könnte daher die Teuerungsrate in die Höhe treiben und das Wachstum gefährden. Aktuell reagiert der Markt weiterhin recht empfindlich auf Inflationsrisiken. Entsprechend hoch ist der Druck auf die Zentralbanken. Die Verzerrung von Angebot und Nachfrage dürfte jedoch nur vorübergehend sein und sollte das globale Wachstum nicht stark beeinträchtigen. Außerdem werden die Auswirkungen von Sektor zu Sektor unterschiedlich sein.

Smartphone-Hersteller, bei denen Halbleiter einen erheblichen Teil der Produktionskosten ausmachen, trifft der Preisanstieg dieser Komponenten (Speicher, Modem, 5G System-on-a-Chip, RF-Antennen) mit voller Wucht, da sie die Kosten nicht an die Kunden weitergeben können. Wir sind daher bei Technologiewerten, die in hohem Maße auf elektronische Komponenten angewiesen sind, sehr vorsichtig. Der Automobil- und der Industriesektor hingegen können Preiserhöhungen unauffälliger verpacken. Das macht diese beiden Sektoren attraktiv, zumal die Bewertungen nach unserer Einschätzung weiter auf angemessenem Niveau liegen, vor allem in Europa.

Taiwan ist mit 21,6 Prozent der weltweiten Produktionskapazitäten der wichtigste Standort für die weltweite Halbleiterindustrie, noch vor Südkorea (20,9 Prozent ), Japan (16 Prozent), China (13,9 Prozent ), Nordamerika (12,8 Prozent) und Europa (5,8 Prozent). Gleichzeitig befindet sich der Inselstaat seit Langem in einem geopolitischen Spannungsfeld zwischen China und den USA: Peking sieht Taiwan als untrennbaren Bestandteil des chinesischen Territoriums, während Washington zwar "politisch" die Ein-China-Doktrin anerkennt, Taiwan aber "wirtschaftlich" als eigenständige Einheit betrachtet. Auch wenn die USA vertraglich nicht zur Verteidigung Taiwans verpflichtet sind, hätte ein Nachgeben der USA gegenüber China Signalwirkung in der Region und ließe das Konzept der Pax Americana in sich zusammenfallen.

Für eine harte Haltung Washingtons spricht noch ein Grund: Mehr als die Hälfte der Halbleiter für die US-amerikanischen Chip-Riesen AMD, Nvidia, Qualcomm und Intel werden von TSMC hergestellt. Die Sicherung von Versorgungskapazitäten hat die klassische Abschreckungsdoktrin verdrängt. Die ultimative Waffe ist heute ein Bauteil von wenigen Nanometern, und mit jeder Verknappung verschärfen sich die Spannungen.

 


Jan Viebig
CIO der Oddo BHF AG

Professor Viebig ist CIO der Oddo BHF AG und Geschäftsführer des Oddo BHF Trust, der die Polaris-Fondsfamilie der Oddo BHF Asset Management verantwortet Zudem hält er eine Gastprofessur für Wirtschaftswissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt.

Oddo BHF ist ein führender unabhängiger Asset Manager in Europa.