DAX-Prognosen: Kurzfristig sinnlos, langfristig realistisch
· Börse Online RedaktionPunktgenau glauben die Experten den Stand des DAX in zwölf Monaten vorhersagen zu können. Jedes Mal aufs Neue macht sich dabei der Gedanke breit: Wären die Prognosen nur ein kurzweiliger, unterhaltsamer Beitrag der Kapitalmarktbranche zum Jahreswechsel, könnte man dies so stehen lassen. Doch falls ein Investor diese Prognosen für seine Anlagestrategie berücksichtigen wollte, könnte dies großen Schaden anrichten. Die Frage ist daher: Steckt in den Prognosen vielleicht doch ein Fünkchen Wahrheit oder lässt sich zumindest ein Erkenntnisgewinn daraus ableiten?
Die Sutor Bank hat sich die Prognosen der letzten 20 Jahre einmal etwas genauer angesehen und daraus einige Lehren ziehen können. Es ist zwar wenig überraschend, dass fast alle Erwartungen von Jahr zu Jahr positiv sind. Und auch, dass immer mindestens ein Stratege mit einer besonders gewagten Vorhersage - extrem positiv oder extrem negativ - aufwartet, mag einen guten Grund haben: etwa um verstärkt für Aufmerksamkeit zu sorgen. Entsprechend sind diese Ausreißer auch für den Anleger von geringem Wert.
Spannender wird es, wenn man die Prognosen für jedes Jahr nach dem Durchschnitt aus allen Schätzungen bündelt. Dann lässt sich etwa erkennen, dass der Durchschnitt aller Schätzungen rund neun Prozent beträgt. Und diese neun Prozent liegen wiederum im Bereich des Mittelwerts, der sich aus der langfristigen Betrachtung der tatsächlichen Wertentwicklung des DAX ergibt. Mit anderen Worten: So falsch liegen die Analysten mit ihren Prognosen gar nicht - wenn man sie im Durchschnitt über einen längeren Zeitraum betrachtet.
Am 30.12.1987 startete der DAX mit 1000 Punkten und war bis Ende 2016 über 11 000 Punkte gestiegen - daraus lässt sich über die vergangenen 30 Jahre eine Wertsteigerung von 8,5 Prozent pro Jahr errechnen. Aus der Erkenntnis, dass der Index diese Durchschnittszahl lediglich zweimal annähernd erreichte - 1995 mit 7,3 Prozent und 2015 mit 9,6 Prozent - und dass Extreme quasi die Regel darstellten (beispielsweise verzeichnete der DAX 2002 auf Jahressicht ein Minus von 43,9 Prozent, 1997 ein Plus von 47,1 Prozent) lässt sich schnell folgern, welche Bedeutung Anleger diesen Jahresprognosen beimessen sollten.
Zumal sich das Bild auch bei einer Verlängerung der Betrachtungszeit auf die Zeitspanne ab 1959 nicht verändert: In den letzten 57 Jahren entsprach die, teilweise zurückberechnete, DAX-Jahresperformance lediglich zweimal dem langjährigen Durchschnitt von sechs Prozent pro Jahr: 1971 (6,7 Prozent) und 1984 (6,1 Prozent).
Erst auf lange Sicht erweist sich also die durchschnittliche Jahresprognose als korrekt. Anleger tun daher gut daran, sich nicht von kurzfristigen Prognosen zu Depotanpassungen verleiten zu lassen. Zwar besteht kein Zweifel, dass ein Anleger sich auch der Volatilität des Marktes bewusst sein sollte. Für jemanden, der einen Fluss durchwaten will, ist schließlich auch nicht nur entscheidend, ob die durchschnittliche Wassertiefe bei einem Meter liegt.
Doch nicht zuletzt 2016 hat gezeigt, wie irreführend einzelne Prognosen sein können, seien sie auch noch so überzeugend vorgetragen. Beim Brexit in Großbritannien etwa irrten Meinungsforscher ebenso wie die Buchmacher der Wettbüros. Auch bei der Präsidentschaftswahl in den USA lagen die Demoskopen denkbar daneben. Auch wenn diese Ereignisse den Aktienmärkten nicht nachhaltig geschadet haben - in einem nervöseren Umfeld hätte es nicht nur kurze Kursausschläge, sondern unter Umständen umfangreichere Verwerfungen gegeben.
Noch ein weiterer Punkt ist an dem alljährlichen Wettbewerb um die beste Prognose des DAX zu kritisieren: Er vermittelt den Eindruck, als wäre der deutsche der einzig relevante Aktienmarkt auf der Welt. Im Sinne eines breit aufgestellten Portfolios sollte der Anleger auch die Indizes anderer Länder und Regionen im Blick haben.
Lutz Neumann ist Leiter der Vermögensberatung bei der Sutor Bank in Hamburg. Nach Stationen als Wertpapierberater, Aktienanalyst und Portfoliomanager unter anderem bei der Deutschen Bank und bei Hesse Newman kam er 2008 zur Sutor Bank. Die Sutor Bank ist eine 1921 gegründete unabhängige Privatbank mit Sitz in Hamburg. Zum Kerngeschäft gehören die Vermögensverwaltung sowie das Stiftungsmanagement.