Mehr als drei Jahrzehnte nach dem Start des DAX 1988 hat die Deutsche Börse den bislang größten Umbau besiegelt. Der Börsenbetreiber zielt damit auf einen zeitgemäßeren Branchenmix im deutschen Leitndex. Die Börse setzt gleichzeitig strengere Zugangsregeln und reagiert damit auch auf den Bilanzskandal beim Zahlungsabwickler Wirecard.
Die DAX-Reform, die mit einer Ausweitung des Leitindex von 30 auf 40 Titel einhergeht, sorgt für kontroverse Reaktionen. Investoren begrüßen zwar grundsätzlich die Erweiterung. Kritiker monieren allerdings, dass dies zulasten des Nebenwerteindex MDAX geht, der nicht nur von 60 auf 50 Titel verkleinert wird, sondern rund ein Drittel seiner Marktkapitalisierung und damit auch seine besten Zugpferde verliert.
"Verzwergung des MDAX"
Die Fondsgesellschaften Uni- on Investment und Deka äußern sich dennoch positiv. "Der DAX wird durch die Modernisierung attraktiver, seine Qualität wird sich verbessern", sagte Union-Investment-Fondsmanager Jürgen Hackenberg zu €uro am Sonntag. Für Indexexpertin Silke Schlünsen von der US-Investmentbank Stifel (vormals Mainfirst) wurde dagegen "die Chance für einen Neubeginn der DAX-Familie vertan". Ähnlich kritisch äußerten sich der Deutsche Investor Relations Verband und das Deutsche Aktieninstitut. Mit der Reform komme es zur "Verzwergung" des MDAX, dessen 25-jährige Erfolgsgeschichte nun zu Ende gehe. Der Aktionärsvereinigung DSW zufolge wird "der MDAX zum Wohle des DAX geopfert".
Die DAX-Reform soll im September 2021 umgesetzt werden. Neben der Ausweitung gelten künftig für die Mitglieder verschärfte Aufsichts- und Berichtspflichten. Werden Quartalszahlen nicht fristgerecht vorgelegt, droht umgehend der Ausschluss. Auch ein Prüfungsgremium im Aufsichtsrat ist künftig verpflichtend. Außerdem dürfen nur Firmen in den Index aufgenommen werden, die zwei Jahre vor dem DAX-Aufstieg einen operativen Gewinn erwirtschaftet haben. An dieser Regel wäre der 2020er-Aufsteiger Delivery Hero gescheitert.
Ausschlaggebend für Auf- und Abstieg ist künftig allein die Marktkapitalisierung des Streubesitzes. Der Börsenumsatz spielt als Kriterium keine Rolle mehr, lediglich eine Mindestliquidität muss erfüllt sein.
Ursprünglich hatte es auch Pläne gegeben, Unternehmen aus dem Index zu verbannen, die an "umstrittenen Waffen" beteiligt sind. Dies hätte den Flugzeugbauer Airbus betroffen. Eine Tochterfirma wartet Trägerraketen für französische Atomwaffen. Die Regelung wurde jedoch fallen gelassen. Da gleichzeitig der Börsenumsatz als Aufnahmekriterium wegfällt, der bislang einen Aufstieg von Airbus verhindert hat, kann das MDAX-Mitglied nun auf eine DAX-Aufnahme hoffen.
Zu weiteren Kandidaten für den Leitindex zählen der Aromenhersteller Symrise, der Laborausrüster Sartorius, der Onlinehändler Zalando und das Biotechunternehmen Qiagen. Chancen werden au- ßerdem den Siemens-Ablegern Siemens Energy und Siemens Healthineers, dem Chemiedistributor Brenntag, dem Wohnungsunternehmen LEG, dem Rückversicherer Hannover Rück und Porsche eingeräumt.
Nachhaltigkeit außen vor
Manche Kritiker wie Deka-Experte Ingo Speich hätten sich eine bessere Berücksichtigung von Nachhaltigkeitskriterien (ESG) gewünscht. Das Deutsche Aktieninstitut begrüßt dagegen gerade den Verzicht darauf. Der DAX sollte die gesamte Wirtschaft des Landes erfassen und dürfe nicht mit Regeln überfrachtet werden. Ähnlich sieht es LBBW-Aktienstratege Uwe Streich, der das Auf und Ab im Leitindex seit Jahren analysiert und als einer der versiertesten Indexperten gilt. Für ihn geht die DAX-Ausweitung in die richtige Richtung. Doch er warnt: Der Fall Wirecard hätte auch mit den neuen Regeln nicht verhindert werden können.
Nachgehakt bei Silke Schlünsen: "Vertane Chance auf Neubeginn"
Die Kapitalmarkt-Expertin der Stifel Europe Bank kritisiert den DAX-Umbau
€uro am Sonntag: Wie zufrieden sind Sie mit der DAX-Reform der Deutschen Börse?
Silke schlünsen: Es geht in die richtige Richtung. Ein größerer Schritt wäre dennoch wünschenswert gewesen, um mehr Kontinuität in der Zusammensetzung des Index zu bekommen. Doch dieses Ziel wird kaum erreicht. Häufige Wechsel zwischen den Indizes sind weiterhin programmiert. Auch für Investoren wird der DAX kaum attraktiver. Eine tiefgreifende Reform wurde leider verschlafen.
Was hätten Sie denn anders gemacht?
Wir hätten eine grundlegende Reform der DAX-Familie gebraucht. Im Zentrum sollte ein einziger, großer Leitindex nach dem Vorbild des US-Leitindex S & P 500 stehen. Der TecDAX für junge Wachstumswerte wäre weiterhin sinnvoll. Er sollte aber ebenfalls größer werden.
Was könnte ein solcher "S & P-500-DAX" besser als der klassische DAX?
Ein neuer, großer DAX wäre für heimische Anleger ebenso wie für Investoren aus aller Welt eine attraktive Möglichkeit, um breit in die deutsche Wirtschaft zu investieren. Vor allem viele globale Investoren wollen keinen reinen Bluechip-Index, sondern einen diversifizierten Index, der auch die kleinen und mittelgroßen börsennotierten Champions umfasst. Für die kleineren Firmen wäre ein neu konzipierter Index zudem eine gute Möglichkeit, besseren Zugang zu Kapital zu erhalten.
Welche Konsequenzen erwarten Sie stattdessen jetzt für DAX, MDAX und SDAX?
Der DAX verändert seinen Charakter nicht, sondern wird lediglich um zehn Titel mit niedriger Gewichtung erweitert. Im Grunde bleibt er aber ein Bluechip-Index. Noch schwerer wiegen die Folgen für den MDAX. Er verliert seine wichtigsten Protagonisten an den DAX. Die Chance für einen strukturellen Neubeginn bei der DAX-Familie wurde vertan.
Union-Investment-Fondsmanager Jürgen Hackenberg zur DAX-Reform: "SAP, Linde und Siemens verlieren an Gewicht"
Euro am Sonntag: Was halten Sie von den Änderungen der DAX, die jetzt beschlossen wurden?
Jürgen Hackenberg: Wir begrüßen die Modernisierung des DAX. Dies wird die Attraktivität und die Qualität des deutschen Leitindex verbessern. Er ist nun breiter aufgestellt und enthält mehr Branchen. Dadurch repräsentiert er auch etwas besser die aktuellen Wirtschaftsstrukturen. Es kommen eine Reihe von Unternehmen dazu, die in ihren jeweiligen Geschäftssegmenten international sehr gut positioniert sind und daher ein hohes strukturelles Wachstum aufweisen können. Im bisherigen DAX 30-Index agieren viele der Indexmitglieder in reifen Märkten, die daher ein zyklischeres operatives Geschäft haben und weniger wachsen können.
Worin sehen Sie die wesentlichen Vorteile eine DAX40?
Mit dem DAX 40-Index verlieren Indexschwergewichte wie SAP, Linde oder Siemens etwas an Gewicht, was für einen aktiven Fondsmanager von Vorteil ist, da sonst eine Übergewichtung der größten DAX-Titel sehr schwierig ist. Ein weiterer Vorteil liegt in der Visibilität sehr erfolgreicher, im MDAX-Index vertretenen Geschäftsmodelle. Dies hilft auch bei der Ansprache internationaler Investoren.
Geht die DAX-Ausweitung zu Lasten des MDAX?
Die Struktur des MDAX-Index wird sich verändern. Dennoch sehen wir weiterhin attraktive Investitionsmöglichkeiten innerhalb des MDAX-Index für aktive Investoren. Dies gilt etwa für Titel aus der Technologiebranche, der Gesundheitsbranche und der Industrie. Wenn MDAX-Schwergewichte in den DAX 40-Index aufsteigen, heißt das auch für die anderen MDAX-Unternehmen, dass deren Gewicht im MDAX-Index steigt und sie dadurch auch potenziell mehr Aufmerksamkeit von den Investoren bekommen.
Sind ESG-Kriterien Sache eines DAX oder reichen nicht Spezialindizes wie etwa der DAX 50 ESG?
Klar definierte und nachvollziehbare Kriterien, die für alle Unternehmen bedeutend sind, sollten im DAX-Index berücksichtigt werden. Die Regelungen zum Prüfungsausschuss im Aufsichtsrat gehören dazu. Nachhaltigkeit ist allerdings komplexer und bedarf deswegen eines aktiven Managements. Indexprodukte alleine können Nachhaltigkeit nicht erreichen.