Ende Januar jedes Jahres wird Goslar vorübergehend zum Nabel der Welt - zumindest der Welt der Juristen, die sich mit Verkehrsrecht befassen, und der Gesellschaften, die Teilnehmer des Straßenverkehrs versichern. Sie alle treffen sich in der Stadt mit der berühmten mittel­alterlichen Kaiserpfalz zum Deutschen Verkehrsgerichtstag. Was in Goslar besprochen wird, ist nicht selten so wichtig wie ein Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH). Das jüngste Expertentreffen könnte für die Versicherer besonders teuer werden, denn schwer verletzte Unfall­opfer haben künftig die Chance, mehr Geld zu bekommen. In den vergangenen Jahren haben Kfz-Versicherer hohe Ab­züge bei der Entschädigung gemacht, vor allem wenn Opfer auf einen Schlag abgefunden werden wollten. Das haben Anwälte nun scharf kritisiert und konnten sich jetzt beim Verkehrsgerichtstag gegen die Versicherer durchsetzen.

"Die Beschlüsse des Verkehrsgerichtstags in Goslar wirken sich in der Praxis meist aus. Daher dürften Personenschäden künftig deutlich teurer werden", schätzt Michel Schah Sedi, Fachanwalt für Verkehrs- und Versicherungsrecht. Hauptgrund: Die Kfz-Versicherer sollen sich nicht mehr an einem alten Urteil des Bundesgerichtshofs orientieren, sondern an den aktuellen Niedrigzinsen. Es geht um Milliardenbeträge.

Wenn es richtig teuer wird. Schon heute müssen die Kfz-Versicherer für Verletzte im Straßenverkehr extrem viel zahlen. Die rund 290 000 Schäden machen zahlenmäßig nur rund acht Prozent aller Kfz-Haftpflichtschäden aus, sie sind aber für 36 Prozent des gesamten Schadenaufwands - konkret fünf Milliarden Euro - verantwortlich, wie die Rückversicherung E + S Rück aktuell ermittelt hat. Gleichzeitig gibt es jährlich nach Hochrechnung der Allianz Versicherung rund 12 500 Schwerstverletzte, die oft mit mehreren Millionen Euro entschädigt werden müssen. So zahlte etwa die Provinzial Rheinland für ein Opfer, das 2014 einen Unfall erlitt, 6,9 Millionen Euro. "Es gibt immer mehr Schäden im Bereich von zehn bis 15 Millionen Euro", stellt Andreas Kelb, General Manager der E + S Rück, fest. Schwerverletzte leben durch den medizinischen Fortschritt viel länger, und die heute übliche Profipflege ist viel teurer, als wenn die Opfer von Verwandten zu Hause betreut werden.

Nun sollen die Versicherer noch mehr Geld zahlen, fordert der Verkehrsgerichtstag. Statt mit fünf Prozent, wie es der BGH 1981 gebilligt hat, sollen Geldabfindungen künftig höchstens noch mit drei Prozent abgezinst werden. Die niedrigere Prozentzahl verwirrt auf den ersten Blick. Die sogenannte Abzinsung bedeutet, dass die heute ausgezahlte Geldsumme so behandelt wird, als würde das Opfer das Geld am Kapitalmarkt anlegen können und so Zinsen erzielen. Diese Rendite wird aus der Entschädigungssumme abgezogen. Sinkt die unterstellte Rendite - etwa auf drei Prozent -, bekommt das Opfer deutlich mehr Geld auf einen Schlag ausgezahlt.

Was das in Zahlen bedeutet, hat der Versicherungsmathematiker und Sachverständige Peter Schramm ermittelt. Je nach Laufzeit und Rentensteigerung beträgt der Mehraufwand für die Kfz-Versicherer zwischen 18 und 50 Prozent. Im Beispiel wurde eine monatliche Rente in Höhe von 2778 Euro auf einmal abgefunden. Möglich ist eine Zahlung auf einen Schlag für alle Ansprüche, die in regelmäßigen Raten gezahlt werden. Das gilt beispielsweise für den sogenannten Haushaltsführungsschaden, den Mehraufwand ­etwa an Miete inklusive des behinder­tengerechten Tiefgaragenplatzes, den Aufwand für Pflegekräfte oder die hauswirtschaftliche Versorgung.

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Versicherer geben sich gelassen. Auf die Frage, wie man auf die Goslar-Empfehlung reagieren werde und ob die Opfer nun mit deutlich mehr Geld rechnen können, reagieren Versicherer oft sehr ausweichend. Das zeigt eine Umfrage von €uro unter den 15 führenden Gesellschaften, die rund 30 Millionen Autofahrer versichert haben: Ergo und Württembergische wollen die Empfehlung erst einmal intern prüfen, bevor sie sich äußern möchten, während die Versicherungskammer Bayern nur reagieren möchte, wenn der Gesetzgeber aktiv wird. Das ist allerdings kaum zu erwarten. Die meisten Kfz-Versicherer geben sich gelassen und sehen wie Deutschlands größter Autoversicherer, die HUK-Coburg, die Empfehlung nicht als Neuerung an, weil man schon immer die "Markt- und Zinsentwicklung in die Einzelfallabwägung" einbezogen hätte.

Immerhin wollen sich die Nummer 2 und die Nummer 3 am Kfz-Versicherungsmarkt, die Allianz und der R + V-Konzern, an Goslar orientieren - natürlich nur unter Betrachtung des Einzelfalls. "Es ist sicher davon auszugehen, dass die Aufwendungen für diese Leistungen ­steigen werden und die Versicher-ten­gemeinschaft dies über die Versicherungsprämie zu tragen hat", sagt Silke Rimmelspacher, R + V-Abteilungsleiterin Kraftfahrt- und Unfallschaden.

Andere Versicherer glauben nicht an einen Mehraufwand. Der Kölner AXA-­Konzern betont, dass er bereits in der Vergangenheit "stets fair" verhandelt ­habe und es "selten" zu Beschwerden ­gekommen sei. Auf Rückfrage von €uro, ob die Schäden stets mit "Fachanwälten" verhandelt wurden, gesteht der Versicherer aber ein, dass er die Anwaltswahl nicht beeinflussen könne, da "der Geschädigte sich seinen Anwalt selbst aussucht".

Auf den Anwalt kommt es an. Wenig Beschwerden kann daher auch bedeuten, dass das Opfer rechtlich schwach vertreten wurde. Gütlich einigen - ohne dass das Opfer über den Tisch gezogen wird - kann man sich mit Versicherern nämlich nur dann, wenn der Rechtsanwalt Erfahrung mit Personenschäden hat. "Der Titel Fachanwalt für Verkehrsrecht ist gut, reicht aber manchmal nicht, wenn es um Schwerstverletzte geht", sagt Matthias Köck, Fachanwalt für Arbeitsrecht und Verkehrsrecht, der auch für den ADAC tätig ist. Nur erfah­rene Anwälte hätten schon in der letzten Zeit drei Prozent oder weniger Abzin­sung herausgeholt.

Wie es in der Praxis tatsächlich läuft, zeigt ein aktueller Fall, bei dem ein Rentner durch einen Verkehrsunfall seine Ehefrau verlor. Sie hatte überwiegend die Hausarbeit erledigt. Das muss er nun selbst organisieren. Daher hat der Ehemann einen sogenannten Haushaltsführungsschaden erlitten. Der Versicherer wollte dafür nur 6000 Euro zahlen. Köck: "Das war, auch wenn die Ehefrau schon älter war und somit keine lange Lebenserwartung mehr hatte, viel zu wenig." Der Anwalt konnte dann 66 000 Euro aushandeln.

"Die Versicherer sitzen nach unserer Auffassung am längeren Hebel, denn der Geschädigte hat weiterhin kein Recht auf Kapitalabfindung", sagt Experte Schah Sedi. Das sieht auch der Richter Friedhelm Röttger so. Heute kann man den Anspruch nur durchsetzen, wenn man einen wichtigen Grund nachweist. Das ist aber schwierig. Gerichte haben dies beispielsweise in einem Fall akzeptiert, bei dem der Geschädigte an den Rand der Stadt ziehen wollte, um dort kostengünstig ein Haus zu kaufen. Auch einem Betroffenen, der sich nach dem Unfall selbstständig machen wollte, wurde das Recht auf Kapitalabfindung als Starthilfe zugesprochen. Röttger, Vorsitzender am Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgericht, beklagt, dass Kapitalabfindungen in der Regel nicht gerichtlich überprüft werden.

Die zusätzliche Empfehlung der Experten, Abfindungen von einem Sachverständigen überprüfen zu lassen, empfinden die Versicherer als unnötig. "Das kann man mit dem Taschenrechner machen", stellt die Provinzial Rheinland dazu fest. Da ist der Sachverständige Schramm ganz anderer Meinung. "Nachrechnen ist zu empfehlen, da oft ungünstig gerechnet wird und zudem die Grundlagen meist nicht offengelegt werden." Aufgrund von Schramms Gegenrechnung wurde schon mal um 40 Prozent nachgebessert.

Glücklicherweise wollen auch die Kfz-Versicherer in der Regel eine Abfindung vereinbaren. Daher lässt Anwalt Schah Sedi die Versicherer zappeln, wenn eine faire Abfindung nicht möglich ist. "Wir lassen dann die Akte offen und verlangen eine regelmäßige Rentenzahlung." Das tue dem Versicherer durch Verwaltungskosten weh. "In der Regel bekommen wir ihn so wieder für einen vernünftigen Vergleich an den Tisch."

Die Alternative. Immer öfter gibt es aber noch eine bessere Lösung als die ­Kapitalabfindung - nämlich das freiwillige Reha-Management der Versicherer. "Hier war ich früher skeptisch", sagt ­Anwalt Köck. "Heute begrüße ich es." Schon Kleinigkeiten könnten helfen. ­Etwa das Medikament, das der Arzt für sinnvoll hält, die Kasse aber nicht zahlen will. Auch Umschulungsangebote wären sinnvoll. Der Geschädigte bekomme einen zusätzlichen Ansprechpartner für Dinge, die der Anwalt nicht oder nur schwer leisten kann. Köck: "Grundsätzlich arbeite ich aber nur mit Reha-Diensten zusammen, die den Code of Conduct der Arbeitsgemeinschaft Verkehrsrecht im Deutschen Anwaltverein unterschrieben haben." Der Anwalt bleibe dann auf jeden Fall "Herr der Regulierung".

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Tipps für Unfallopfer: So kommen Sie zu Ihrem Recht


Schwer verletzte Unfallopfer leiden. Oft auch an der Regulierung durch den Ver­sicherer. Wer als Betroffener frühzeitig Fehler vermeidet, erhält in der Regel ­zumindest eine faire Entschädigung

Den richtigen Anwalt finden. Häufig ist es für Schwerverletzte schwierig, einen ­Anwalt zu finden, der tatsächlich in der komplexen Personenschadenregulierung bewandert ist. Ein erstes gutes Auswahlkriterium ist der sogenannte Fachanwalt. Juristen, die als Fachanwälte für Verkehrs- oder Versicherungsrecht arbeiten, müssen sich regelmäßig schulen. Unfallopfer sollten prüfen, ob der auserkorene Ex- perte in der Fachliteratur zum Thema ­Personenschadenregulierung Beiträge ­geschrieben hat oder in diesem Bereich sogar als Dozent in der Weiterbildung für Anwälte und Richter arbeitet.

Die eigenen Ansprüche durchsetzen. Die Betroffenen haben Anspruch auf: Schmerzensgeld, Ausgleich für den Verdienstausfall, Erstattung der Kosten für Pflege und Betreuung, den behindertengerechten Umbau des Hauses oder der Wohnung sowie den sogenannten Haushaltsführungsschaden. Problematisch ist, dass der Haushaltsführungsschaden oft von den Versicherern "kleingerechnet" wird. Dabei geht es oft um sechsstellige Summen. Wer vor seinem Unfall die Familie betreut und weitgehend den Haushalt erledigt hat, muss deutlich entschädigt werden, wenn er dies nicht mehr leisten kann. So kann eine Hilfskraft eingestellt werden.

Viel Zeit mitbringen. Kompetente Anwälte werden Schwerverletzten von Anfang an deutlich machen, dass die Regulierung bei Personenschäden eine langwie­rige Angelegenheit ist. In aller Regel wird eine außergerichtliche Einigung angestrebt. Ab Entlassung aus der stationären Behandlung dauert die Regulierung nach Einschätzung von Experten meist noch rund zwei Jahre. Das gilt aber nur, wenn dann bereits das Haus umgebaut und ein effizientes Pflegemodell entwickelt wurde.

Reha-Management überwachen. Das Reha-Management der Versicherer ist doppelt positiv: Es hilft, Kosten zu sparen, und bringt die Opfer in den Beruf zurück. Die Wiedereingliederung ist eine große psychologische Hilfe. Sie sollte aber anwaltlich begleitet werden. Dafür gibt es bereits seit Langem ein Regelwerk, das die Arbeitsgemeinschaft Verkehrsrecht des Deutschen Anwaltvereins (DAV) im vergangenen Jahr verbessert hat. "Jeder Reha-Dienst muss künftig einen Beirat ­haben", erläutert DAV-Anwalt Christian Janeczek. Der Beirat soll regelmäßig prüfen, ob die Dienstleister gegen das Regelwerk verstoßen. Solche Verstöße können zu ­einem Verlust der Anerkennung führen. Damit wollen die Anwälte die Qualität des Reha-Managements und die Position der anerkannten Dienste verbessern. Derzeit sind zwölf Reha-Dienste von der Arbeitsgemeinschaft Verkehrsrecht anerkannt.

Notfalls Rechtsbeistand wechseln. Sind Unfallopfer mit ihrem Anwalt unzufrieden, weil die Regulierung stockt, sollten sie ihren Anwalt gezielt nach der Ursache fragen. Wird nur herumgedruckst, könnte ein Anwaltswechsel sinnvoll sein. Sogar im allerletzten Moment kann man noch die Reißleine ziehen - vor der Unterschrift ­unter die Abfindungserklärung. Dann kann immer noch eine zweite Rechtsmeinung von einem anderen Anwalt eingeholt werden, wenn auch auf eigene Kosten. Wer die Abfindungserklärung unterschrieben hat, muss nämlich in aller Regel mit ihr leben - auf Gedeih und Verderb.