Dass ein Mann mit 41 Jahren nach nur einer Legislaturperiode freiwillig aus dem Bundestag ausscheidet, ist ungewöhnlich genug. Fabio De Masi, Diplom-Volkswirt, Deutsch-Italiener und einer der stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der Linken, wurde 2017 für die Hamburger Linke als Spitzenkandidat in den Bundestag gewählt. Für den Platz wäre er mit Sicherheit erneut nominiert worden, wenn er nur gewollt hätte. Doch er zieht - zumindest vorerst - ein Leben außerhalb des Parlaments vor. Eine breitere Öffentlichkeit wurde auf den kompetenten und geradlinigen Abgeordneten vor allem durch seine engagierte Aufklärungsarbeit im Wirecard-Untersuchungsausschuss aufmerksam. Der Mann rackerte sich als Volksvertreter in der Finanzpolitik ab wie kaum ein anderer, verzweifelte aber daran, dass sich auch in seiner Partei immer mehr die Haltungs-Politiker durchsetzten. Mit Sahra Wagenknecht stand er in der Fraktion am Rand. "Die Linke hat den Kontakt zu den einfachen Leuten verloren", bedauert er, "sie orientiert sich zunehmend am ‚woken‘ Akademikermilieu." Die Quittung: Die Linke verlor stark bei den Wahlen in Ostdeutschland und krebst in den Umfragen zur Bundestagswahl zwischen sechs und sieben Prozent. De Masi hat Respekt vor Andersdenkenden nicht nur im Parlament gelebt: "Ich habe den politischen Meinungsstreit - gerade auch mit Konservativen und Liberalen - immer als eine Bereicherung empfunden."
€uro am Sonntag: Sie haben als Finanzpolitiker der Linken nicht nur im Wirecard-Untersuchungsausschuss "bella figura" gemacht. Und trotzdem verlassen Sie den Bundestag. Was war der entscheidende Anstoß dafür?
Fabio De Masi: Ich hatte in den sieben Jahren - zunächst im EU-Parlament und dann im Bundestag - eine hohe Schlagzahl. Ich war nicht im Schlafwagen unterwegs, sondern auf Steroiden. Als ich ins EU-Parlament einzog, war mein Sohn fünf Jahre alt. Jetzt ist er zwölf. Ich habe das nicht gut reguliert bekommen. Jetzt habe ich noch ein kleines Zeitfenster, wo er sich für mich interessiert. Ein Kind hat man nur einmal im Leben.
Die Berufspolitik frisst private Beziehungen auf?
Ich habe genügend Kolleginnen und Kollegen im Parlament, die abhängig geworden sind von ihrem Mandat. Die haben etwa ein abgebrochenes Studium, kämpfen unabhängig von ihren Fähigkeiten verbissen um Mandate oder haben Angst vor der Einsamkeit, weil die Familien kaputt sind. Ich wollte mit 41 wieder einen Blick von außen bekommen, Zeit für das Private haben, aber auch wieder meine Brötchen außerhalb des Parlaments verdienen.
In Ihrem Rückzugsschreiben attackierten Sie im Frühjahr unverhohlen die grassierende "Identitätspolitik". Sie beklagen eine Entkoppelung der Linken von der Lebensrealität der kleinen Leute. Stattdessen fokussiere man sich viel zu stark auf die "woke" Akademikerklientel.
Ich will nicht im Wahlkampfendspurt Salz in die Wunde streuen. Ich will ja, dass linke Politik erfolgreicher wird. Trotzdem muss man Fehler benennen, die sonst auch im Wahlkampf nicht mehr ausgebügelt werden. Ich habe in einer so bedeutenden Zeit noch nie einen so flachen Wahlkampf erlebt. Es geht nur noch um Lebensläufe oder peinliche Auftritte. Wir haben uns in Deutschland buchstäblich davon entwöhnt, über die großen Fragen unserer Zeit gehaltvoll zu streiten - jenseits von Empörungswellen in den sozialen Netzwerken. Das geht quer durch die politischen Lager. Wie erhöhen wir die Impfanreize in armen Stadtteilen? Wie bekämpfen wir die wachsende Ungleichheit in der Corona-Pandemie, die unbezahlbaren Mieten?
"Erst kommt das Fressen und dann die Moral!" Der Satz aus Bert Brechts "Dreigroschenoper" konterkariert treffend die Haltung der politisch Korrekten im Land. Sie verordnen Moral, ob beim Thema Migration oder in der Klimaschutzpolitik. Doch die kleinen Leute müssen die Zeche bezahlen, die sie sich nicht leisten können.
Der gut situierte Professor, Grün-Wähler, der in bester City-Lage lebt, mit dem Fahrrad zur Arbeit fährt, aber öfters in den Urlaub fliegt, als Vorbild? Der im Umland lebende Malocher dagegen, der mit seinem alten Diesel pendelt und fast nie verreist, eine Ökosau? Wer mit Moral Politik machen will, soll in die Kirche gehen. Da hat die Linke, aus der Tradition der Arbeiterbewegung kommend, eine Aufgabe: Die Klimafrage so zu lösen, dass sie nicht die soziale Spaltung vertieft. Etwa durch Milliardeninvestitionen in öffentliche Verkehrssysteme - auch auf dem Land. Das ist eine neue Mission, die Mondlandung des 21. Jahrhunderts. Auch ich lehne Moral und Verantwortung nicht ab. Aber Politik besteht nicht nur aus der Selbstbefriedigung der eigenen Moral. Wir müssen konkrete Probleme lösen. Das beste Rezept gegen die AfD ist noch immer, sozialen Zusammenhalt zu organisieren. Nicht nur die urbanen Zentren in den Blickpunkt zu rücken, sondern auch die Menschen auf dem Land.
Die Grünen profitieren vom Megathema Klimawandel - trotz der Pannenserie ihrer Kanzlerkandidatin. Das gesamte politische Establishment hechelt verzweifelt hinterher. Doch selbst die radikalste nationale Klimaschutzpolitik ändert das Weltklima nicht, verteuert aber für Millionen kleine Leute Strom, Heizung und Mobilität oder kostet sie gar ihre Arbeitsplätze.
Wer die Klimafrage lösen will, der kommt an der sozialen Frage nicht vorbei. Nehmen wir die CO2-Steuer. Mit meinem Einkommen als Bundestagsabgeordneter putze ich die mir vom Ärmel, dadurch ändere ich nicht zwingend mein Verhalten. Ich werde sogar mit der Limousine durch die Stadt chauffiert. Wer aber als Schichtarbeiter im Umland lebt, wo nachts kein Bus mehr fährt, ist zum Pendeln auf das Auto angewiesen. Bei den Leuten kann die Lenkungswirkung durch CO2-Bepreisung nur funktionieren, wenn der Staat Milliarden in intelligente Verkehrssysteme investiert. Das ist auch neuer Wohlstand. Allein die marktwirtschaftliche Lenkungswirkung über den Preis wird nicht funktionieren. Die Klimafrage wird sonst zur neuen Klassenfrage zwischen Oben und Unten.
Anderes Thema: Warum gewinnt Olaf Scholz derzeit im Vergleich zu Armin Laschet oder Annalena Baerbock an Zustimmung? Dabei kleben doch die Wirecard-Pleite und die Cum-Ex-Geschäfte der Warburg Bank an ihm.
In der Tat kann der Hamburger Sozialdemokrat derzeit recht entspannt Wahlkampf machen. Dabei läuft es für ihn nur so gut, weil die anderen so schlecht sind. Bisher zieht er jedenfalls die SPD nicht in ungeahnte Höhen. Wenn die Linke mit überzeugendem Personal ökonomische und soziale Kernfragen in der Breite verkörpern würde, könnten wir profitieren. Gegen Scholz als Person habe ich nichts. Seine hanseatische Art finde ich als Wahl-Hamburger eher angenehm. Doch mir geht es um politische Glaubwürdigkeit.
Weshalb?
Gerade der Fall Wirecard zeigt, wie notwendig eine funktionierende Finanzaufsicht ist. Der Cum-Ex-Skandal belegt, dass wir eine Steuergesetzgebung und eine Finanzverwaltung brauchen, die Schlupflöcher nicht viele Jahre zum Milliardenschaden der Staatskasse toleriert. Es geht schlicht nicht, dass das Finanzamt bei jedem Handwerker jede Rechnung umdreht, ein Beschuldigter wie der damalige Warburg-Bankier Christian Olearius dagegen beim damaligen Hamburger Ersten Bürgermeister Olaf Scholz reinspazieren kann, um dann über seinen Steuerbescheid zu verhandeln. Das streitet Scholz natürlich ab. Doch die Indizienlage ist erdrückend. Drei Mal traf Olearius den Bürgermeister in einem laufenden Steuerverfahren, zwei Mal nur unter vier Augen. Danach drehte die Hamburger Steuerverwaltung bei und verzichtete auf eine viele Millionen schwere Rückforderung an die Warburg Bank, obwohl die eigenen Betriebsprüfer protestierten. Das stinkt.
Genießen Sie ab Herbst die neue Freiheit - ohne Fraktionsdisziplin und Fremdbestimmung!
In der Tat kann ich künftig viel freier reden. Das erlebe ich persönlich als eine große Befreiung. Nicht mehr zu jedem Mist Ja und Amen sagen zu müssen. Obwohl ich in meiner aktiven Zeit selten etwas vertreten habe, was ich absolut falsch fand. Allerdings habe ich manchmal sicher den Mund bei Dingen gehalten, wo ich gedacht habe: um Gottes Willen!
Vita:
Sohn eines Gewerkschafters
Fabio De Masi wurde am 7. März 1980 in Groß-Gerau als Sohn eines italienischen Gewerkschafters und einer deutschen Sprachlehrerin geboren. Er wurde im Juni 2014 für die Partei Die Linke in das Europäische Parlament gewählt. Seit 2017 ist er Mitglied des Deutschen Bundestags. De Masi ist stellvertretender Vorsitzender der Fraktion Die Linke im Bundestag, der finanzpolitische Sprecher und Leiter des Arbeitskreises Wirtschaft und Finanzen sowie Obmann des Wirecard-Untersuchungsausschusses. Sein Brief zum Abschied aus dem Bundestag ist auf seiner Website zu lesen (www.fabio demasi.de)