Es ist doch seltsam. Wir haben es mit einer handfesten Wirtschaftskrise zu tun, und dennoch setzt sich dieser Fakt an den Börsen nicht durch. Das offensichtlichste Beispiel liefert die amerikanische Technologiebörse Nasdaq. Trotz eines wirtschaftlichen Schocks, der in der Rangliste der schlimmsten Krisen aller Zeiten recht weit vorn zu finden sein dürfte, notiert der Nasdaq Composite nicht allzu weit entfernt vom bisherigen Allzeithoch. Auch der DAX klettert und klettert nach oben, ließ das bisherige Tief vom März weit hinter sich.
Aber es sind nicht nur die Technologieaktien und der DAX, die gut laufen. Auch in der Alltagswelt treibt die Krise seltsame Blüten. So gibt es in den USA derzeit einen Boom bei hochpreisigen Anschaffungen. Beispielsweise werden Camper gekauft wie nie zuvor. Der Aktienkurs von Camping World, Marktführer in diesem Bereich, spricht Bände. Und das alles, obwohl derzeit so viele Menschen ihren Arbeitsplatz verlieren oder ihr Einkommen so ungewiss ist wie selten zuvor.
Genauso seltsam scheint es, dass für illiquide Sammlerstücke wie alte Basketballschuhe von Michael Jordan oder Baseballsammelkarten im Moment auf Auktionen Preise gezahlt werden, die geradezu schwindelerregend sind. Normalerweise erwartet man so etwas doch nicht, wenn Otto Normalverbraucher sich um sein Auskommen sorgt?
Irritierend ist auch, dass Leute oder Organisationen wie das New Yorker DJ-Duo The Chainsmokers problemlos viel Geld für einen Risikokapitalfonds einsammeln, während parallel dazu legendäre Investoren wie Warren Buffett oder Stan Druckenmiller lieber Cash horten und sich große Sorgen um den Markt machen.
Das alles vor dem Hintergrund, dass es gerade einen Ansturm von Neukunden auf Broker-App-Anbieter wie Robinhood Markets gibt. Die drei größten Onlinebroker in den USA allein sammelten im März und April 800 000 neue Kunden ein. Die sind anscheinend überwiegend recht jung, was wiederum auf einen interessanten Generationenkonflikt schließen lässt: Die Alten sind bearish, die Jungen sind bullish.
Jede Menge Börsennovizen spielen also gerade auf und mit den Märkten, während die Dinge so ungewiss sind, dass Hunderte von Unternehmen ihre Gewinnprognose für 2020 einkassiert haben. Die Novizen wetten offenbar bevorzugt auf Unternehmen, die an möglichen Behandlungen und Heilmitteln gegen das Coronavirus arbeiten - und deren Erfolgschancen ungewiss sind. Hopp oder Top. Allein in der vergangenen Woche sammelten wieder zwei Biotechunternehmen Milliarden an Geldern ein, nur weil sie Schlagzeilen mit vagen Andeutungen machten, ohne echte Daten zeigen zu können.
Die Liste an Absonderlichkeiten in diesen schwierigen Zeiten ließe sich schier endlos fortsetzen. Man kommt irgendwann zu dem Schluss, dass es viele Dinge in dieser Krise gibt, die so einfach nicht zusammenpassen. Für die britische Wirtschaftszeitung "Financial Times" ist das alles derart ausgeufert, dass sie sogar einen Vergleich mit Sportwetten wagt: "Stock trading is now the new sports betting", hieß es in einer ihrer jüngsten Ausgaben. Dann hieße dies wohl auch, dass die laufende Rally auf sehr wackeligen Beinen steht.
Martin Blümel ist leitender Redakteur bei BÖRSE ONLINE und Autor des Börsenblogs www.bluemelstaunt.com