May wollte mit der Neuwahl eigentlich Rückenwind für die Gespräche erhalten. Doch ihre konservativen Tories verloren überraschend die absolute Mehrheit im Parlament, behaupteten sich aber als stärkste Kraft. Die oppositionelle Labour-Partei gewann dazu und reklamierte für sich, eine Minderheitsregierung zu bilden. In der EU löste das Ergebnis die Sorge aus, der noch für Juni geplante Beginn der Brexit-Gespräche könnten sich verzögern und erschwert werden. An den Börsen stiegen die Kurse wegen der Hoffnung, der Brexit könne noch scheitern.

May machte im Anschluss an das Gespräch mit Königin Elizabeth II. deutlich, dass sie eine Koalition mit der nordirischen Unionist Party anstrebe. Mit ihr hätten die Konservativen eine knappe Mehrheit im Unterhaus. "Wir werden weiter besonders mit unseren Freunden und Verbündeten in der Democratic Unionist Party zusammenarbeiten." Auch mit anderen "Freunden" werde sie kooperieren.

LABOUR FORDERT MAY ZUM RÜCKTRITT AUF



Von den 650 Sitzen im britischen Unterhaus gehen nach Auszählung fast aller Bezirke 318 an die Konservativen und 261 an Labour. Damit verloren die Tories zwölf Sitze, Labour gewann 29 hinzu. Für die absolute Mehrheit sind 326 Mandate notwendig. May dürften Ankündigungen höherer Belastungen älterer Menschen für ihre Pflege im Wahlkampf ebenso geschadet haben wie ihre Politik als langjährige Innenministerin, als sie Zehntausende Polizisten-Stellen strich. Labour-Chef Jeremy Corbyn erklärte, May habe Vertrauen verloren und sollte gehen. Die Partei erklärte sich bereit, auch einen Minderheitsregierung zu bilden. May hatte die Neuwahlen im April angesetzt, als Umfragen ihr einen deutlichen Ausbau ihrer absoluten Mehrheit voraussagten. Sie versprach sich von der Abstimmung ein starkes Mandat für die Brexit-Verhandlungen. In diese dürfte sie nun geschwächt gehen. Die Konservativen setzen auf einen harten Schnitt, benötigen dafür aber eine klare Mehrheit im Parlament. Alle anderen Parteien im Parlament sind gegen einen "harten Brexit" oder sogar gegen den EU-Austritt.

Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon forderte die Regierung auf, nun Abstand von den Plänen für einen harten Brexit zu nehmen. Sie werde alles versuchen, die Konservativen von der Macht fernzuhalten und Großbritannien sowie Schottland im EU-Binnenmarkt zu halten. Allerdings verlor die schottische SNP bei der Wahl deutlich an Sitzen im Parlament. Die Liberaldemokraten gewann dagegen hinzu und verlangten, die Brexit-Verhandlungen sollten zunächst ausgesetzt werden. Die Argumente für ein zweites Referendum über den Ausstieg des Landes aus der EU würden stärker.

GABRIEL: WÄHLER HABEN NICHT MIT SICH SPIELEN LASSEN



Während eine Sprecherin von Kanzlerin Angela Merkel die Wahl nicht kommentieren wollte, machte Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) keinen Hehl aus seiner Genugtuung über die Schlappe der Konservativen: "Ich finde, die britischen Bürger haben gezeigt, dass sie nicht mit sich spielen lassen wollen." Die Briten sollten nun nochmal über die Art und Weise des Austritts in der EU nachdenken. Deutschland wolle das Land in den Verhandlungen so nah wie möglich an der Europäischen Union halten.

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker drang trotz der Wahl auf einen schnellen Beginn der Gespräche. Die Gemeinschaft warte händeringend darauf. Er hoffe, dass der Ausgang der Unterhauswahl keine größeren Auswirkungen auf die Verhandlungen habe und deren Ausgang sich nicht verzögere. EU-Ratspräsident Donald Tusk warnt vor einem Scheitern der Brexit-Verhandlungen. "Tun Sie Ihr Bestes, um einen 'no Deal' als Ergebnis von 'keinen Verhandlungen' zu verhindern", twitterte er. Mit Blick auf das geplante EU-Austrittsdatum Großbritanniens am 29. März 2019 schrieb Tusk: "Wir wissen nicht, wann die Brexit-Gespräche beginnen, aber wir wissen, wann sie enden müssen." Der Zeitplan kann nur mit Zustimmung aller EU-Mitglieder geändert werden.

DEUTSCHE WIRTSCHAFT NACH WAHLAUSGANG BESORGT



In der deutschen Wirtschaft löste die Wahl Sorgen aus: Es steige die Unsicherheit, beklagte der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Martin Wansleben. "Der Fahrplan für die Brexit-Verhandlungen ist nun Makulatur." Auch der Chef des Außenhandelsverbands, Anton Börner, rechnet mit neuen Unwägbarkeiten. "Das ist überhaupt kein Grund zur Schadenfreude, denn das ist eine schlechte Nachricht für Brüssel", sagt er. Börner hält es für möglich, dass von britischer Seite nun eine noch härtere Gangart in den Brexit-Verhandlungen verfolgt wird.

Während das britische Pfund nachgab, bekamen die Aktienbörsen in Großbritannien und Europa überwiegend Auftrieb. Anleger spekulierten auf einen sanften Brexit oder sogar auf einen "Exit vom Brexit."

rtr