Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hatte nach Reuters-Informationen im CDU-Bundesvorstand davor gewarnt, dass die Unionsparteien "am Abgrund" stünden. Merkel und CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt appellierten in der Fraktionssitzung, dass sich beide Seiten einigen müssten. "Der Wunsch, das zu lösen, ist groß", sagte Merkel nach Teilnehmerangaben. Dobrindt sprach von einem "lösbaren Problem" und erinnerte an die jahrzehntelange Fraktionsgemeinschaft der Union.
Seehofer hatte nach einer stundenlangen Sitzung der CSU in München in der Nacht zum Montag seinen Rücktritt angeboten, ihn aber auf Drängen anderer CSU-Politiker wieder zurückgenommen. Er nannte eine neue Frist für eine mögliche Einigung mit der CDU bis zu seinem 69. Geburtstag am Mittwoch. Die CSU dringt mehrheitlich weiter darauf, dass die Bundesregierung neben den auf EU-Ebene getroffenen Maßnahmen zur Verringerung der Migration auch nationale Schritte ergreifen müsse. Dazu soll die Zurückweisung von Flüchtlingen gehören, die in anderen EU-Staaten registriert sind. Während Seehofer die Beschlüsse des EU-Gipfels als nicht ausreichend bezeichnete, sieht die CDU-Spitze dies anders. Auch Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) ging auf Distanz zu seiner Parteispitze.
Sollte die CSU ihre Drohung umsetzen und Seehofer im Alleingang die von CDU und SPD abgelehnten Zurückweisungen an der Grenze anordnen, hätte Merkel nach Ansicht führender CDU-Politiker keine andere Wahl als die Entlassung des Innenministers. Dies könnte einen Koalitionsbruch auslösen.. Als Kompromissmöglichkeiten wurde in Unionskreisen genannt, dass die CSU der Kanzlerin mehr Zeit für die Umsetzung der erzielten Beschlüsse auf europäischer Ebene gibt. Die CDU könne ihrer Schwesterpartei die Zurückweisung einer weiteren Gruppe von Flüchtlingen anbieten.
Am Sonntagabend hatte sich der CDU-Bundesvorstand mit einer Enthaltung hinter Merkel gestellt. "Einseitige Zurückweisungen wären das falsche Signal an unsere europäischen Gesprächspartner", heißt es in einem Beschluss. Zugleich bemühte man sich um eine versöhnliche Sprache. "In der Migrationspolitik verfolgen wir dieselben Ziele", heißt es in einer Erklärung von Montag. Beide Unionsparteien wollten die Zuwanderung nach Deutschland "ordnen, steuern und begrenzen".
CDU-Vizechefin Julia Klöckner sagte, man habe der CSU "breite Brücken" gebaut. Dazu gehören aus CDU-Sicht geplante bilaterale Rücknahmeabkommen sowie das Zugeständnis, dass an der Grenze Flüchtlinge abgewiesen werden können, die mit einem Asylantrag in Deutschland gescheitert oder aber in Spanien oder Griechenland registriert worden sind.
HARSCHE KRITIK VON SPD UND OPPOSITION
An dem Spitzengespräch nehmen für CDU Merkel, Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer, Fraktionschef Volker Kauder sowie die fünf CDU-Vizevorsitzenden teil. Die CSU kommt mit Seehofer, Bayerns Ministerpräsident Markus Söder, Generalsekretär Markus Blume, dem früheren Ministerpräsidenten Edmund Stoiber, Dobrindt, Verkehrsminister Andreas Scheuer, dem Parlamentarischen Geschäftsführer Stefan Müller und Digitalisierungs-Staatsministerin Dorothee Bär in die CDU-Zentrale.
SPD und Opposition kritisierten die Union erneut. "Mein Optimismus war vorgestern größer", sagte SPD-Chefin Nahles auf die Frage, ob sie zuversichtlich sei, dass CDU und CSU ihren Streit beenden könnten. Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter warf der CSU vor, mit "testosterongesteuerten Egoismen" die Bundesregierung zu zerlegen. Auf die Frage, ob die Grünen zum Eintritt in die Regierung bereitstünden, sagte er, sie würden sich Gesprächen nicht verweigern. FDP-Chef Christian Lindner kritisierte, die CSU habe aus einer Sachfrage eine Machtfrage gemacht. Sie zeige, dass sie zurzeit keine bürgerliche Partei sei.
rtr