Die US-Regierung um Präsident Joe Biden erwägt die Freigabe von bis zu 180 Millionen Barrel Öl aus den nationalen Notreserven, um sich dem sprunghaften Anstieg der Ölpreise seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine entgegen zu stemmen. Das wäre der größte Abfluss in der 50-jährigen Geschichte der amerikanischen Vorräte.
"Verzweifelte Zeiten erfordern eindeutig verzweifelte Maßnahmen, und die Biden-Regierung ist eindeutig der Ansicht, dass der Anstieg der Ölpreise diesen Schritt rechtfertigt, um die Notreserven des Landes anzutasten", sagte Susannah Streeter, Marktanalystin bei Hargreaves Lansdown.
Spekulationen auf Angebotsengpässe aus dem mit Sanktionen belegten Russland, dem zweitgrößten Öl-Exporteur weltweit, hatten die Preise in den vergangenen Kriegswochen nach oben getrieben. Zudem machten Spekulationen auf eine Freigabe von Rohölreserven durch die Mitglieder der Internationalen Energieagentur (IEA) die Runde. "Es ist nicht klar, ob die im Raum stehende Freigabe der US-Reserven Teil dieser Aktion wäre", hieß es bei der Commerzbank. Für Freitag wurde ein außerordentliches IEA-Treffen einberufen, von Biden könnte bereits am Donnerstag eine Ankündigung zu den Ölreserven kommen.
Die im Raum stehenden US-Mengen könnten nach Einschätzung der Analysten von Goldman Sachs den Ölmarkt in diesem Jahr stabilisieren, indem für sechs Monate pro Tag eine Million Barrel Öl mehr fließen würde. "Dies würde jedoch eine Freigabe von Ölvorräten bleiben, keine dauerhafte Versorgungsquelle für die kommenden Jahre. Eine solche Freigabe würde daher das seit Jahren bestehende strukturelle Versorgungsdefizit nicht lösen." Die USA könnten damit allenfalls die starke Volatilität begrenzen und große Aufwärtsbewegungen abschwächen, sagte auch Avtar Sandu, Rohstoffmanager bei Phillip Futures.
Unabhängig davon steht im Tagesverlauf auch ein Treffen der Opec+, zu der 23 Länder rund um Saudi-Arabien und Russland gehören, auf der Agenda. Trotz der Spekulationen auf ein europäisches Embargo russischen Öls rechnen Experten damit, dass die Gruppe an ihrer Politik einer maßvollen Ausweitung der Fördermengen festhält. Bisher zeigt sich der Ölverbund trotz des Krieges Russlands gegen die Ukraine geschlossen.
Die Nachrichten lassen die Ölpreise am Donnerstag fallen. Ein Barrel (159 Liter) der Nordseesorte Brent kostete am Vormittag zeitweise 106,09 US-Dollar. Das waren gut fünf Prozent weniger als am Vortag. Der Preis für ein Fass der US-Sorte West Texas Intermediate (WTI) fiel ähnlich stark auf 100,06 Dollar.
Mit den fallenden Ölpreisen geben auch die Aktien von Ölkonzernen nach. Shell, BP und TotalEnergies notieren am Vormittag abgeschwächt. Mit einem Abschlag von 1,6 Prozent reagiert BP am stärksten auf das Minus am Rohölmarkt. Börse Online hält alle drei Profiteure von steigenden Ölpreisen für haltenswert.
mmr mit rtr/dpa-AFX