Die Aufarbeitung des Skandals um Wirecard nimmt kommende Woche Fahrt auf: In München findet die erste Gläubigerversammlung statt, auf der Insolvenzverwalter Michael Jaffé den Verkauf des Wirecard-Kerngeschäfts präsentieren will. Und in Berlin rückt der frühere Vorstandschef des Zahlungsabwicklers in den Fokus: Markus Braun (51), der seit Monaten in der Justizvollzugsanstalt Gaiblingen bei Augsburg in Untersuchungshaft sitzt, soll am nächsten Donnerstag (19. 11.) vor dem Wirecard-Untersuchungsausschuss des Bundestags Rede und Antwort stehen. Nach der Aufdeckung einer 1,9 Milliarden Euro schweren Bilanzlücke war Braun im Juni zurückgetreten, der DAX-Konzern meldete Insolvenz an.
Doch um das persönliche Erscheinen Brauns ist ein Streit entbrannt, der vor dem Bundesgerichtshof enden könnte. Während die Ausschussmitglieder Florian Toncar (FDP) und Danyal Bayaz (Grüne) darauf bestehen, dass Braun persönlich anwesend ist, hat der Ex-Chef über seine Anwälte eine Videovernehmung beantragt. Braun fürchtet Gesundheitsrisiken wegen der Corona-Epidemie. Toncar hatte zuvor gegenüber €uro am Sonntag erklärt, die bayerische Justiz werde Braun persönlich nach Berlin Bringen. Die Vernehmung werde "ein Schlüsselmoment für die Aufklärung des Wirecard-Skandals." Sie sei aber persönlich authentischer und das Bild, das sich der Ausschuss direkt von den Zeugen machen kann, sei umfassender. Neben Braun sollen auch Ex-Aufsichtsratschef Thomas Eichelmann, Ex-Wirecard-Manager Oliver Bellenhaus, Vize-Finanzchef Stephan von Erffa, und die frühere Aufsichtsrätin Tina Kleingarn als Zeugen vernommen werden.
Redet er - oder schweigt er?
Der Grünen-Finanzpolitiker Danyal Bayaz sagte zu €uro am Sonntag, er gehe davon aus, dass Braun persönlich erscheint: "Markus Braun wird auch im Untersuchungsausschuss seinen Teil zur Aufklärung des Wirecard-Skandals beitragen müssen. Er wird nicht auf alle Fragen die Antwort verweigern können. Am Ende ist er als Vorstandsvorsitzender Hauptverantwortlicher." Die konkreten Fragen sollen sich insbesondere auf persönliche Verbindungen Brauns zur Politik und seine Rolle und sein Wissen bei den mutmaßlich betrügerischen Handlungen von Wirecard beziehen. Der Untersuchungsausschuss kann wie ein Gericht Zeugen unter Eid vernehmen und hat vollständige Akteneinsicht.
Braun könnte allerdings auch die Aussage verweigern. Als Beschuldigter muss er sich nicht persönlich belasten.
Der Bundestag hatte am 1. Oktober auf Antrag von FDP, Linken und Grünen die Einsetzung des Wirecard-Untersuchungsausschusses mit den Stimmen der Opposition beschlossen. Seit 8. Oktober untersucht der Ausschuss, wie die Bundesregierung und untergeordnete Behörden wie die Finanzaufsicht Bafin über Wirecard informiert waren und wie sie die Finanz-, Geldwäsche- und Steueraufsicht erfüllt haben. Untersucht werden soll auch, wie sich die Bundesregierung für Wirecard im In- und Ausland eingesetzt hat. Bayaz will auch klären, wie ein solcher Skandal künftig verhindert werden kann.
Braun war nach der Aufdeckung des Bilanzskandals im Juni zurückgetreten und sitzt seit Juli in Untersuchungshaft. Die Staatsanwaltschaft wirft dem gebürtigen Wiener und weiteren Managern des Zahlungsabwicklers bandenmäßigen Betrug, Bilanzfälschung und Marktmanipulation vor. Die Ermittler gehen davon aus, dass die Beschuldigten jahrelang die Bilanz mit Luftbuchungen in Asien aufgebläht und damit Verluste im Kerngeschäft überdeckt haben. Während Markus Braun in Untersuchungshaft sitzt, ist Ex-Vorstand Jan Marsalek weiter auf der Flucht und wird weltweit gesucht.
Der "Financial-Times"-Journalist Dan McCrum ist bereits Anfang November im Wirecard-Untersuchungsausschuss befragt worden. Die Zeitung hatte frühzeitig über Unregelmäßigkeiten bei Wirecard berichtet. McCrum sieht vor allem ein Versagen der Wirtschaftsprüfer von EY, aber auch der Finanzaufsicht Bafin. Die Behörden hätten sich zu stark auf einzelne Zahlen konzentriert, statt fragwürdige Methoden des Unternehmens genauer zu untersuchen. Auch die Investoren hätten das Geschäftsmodell von Wirecard intensiver hinterfragen müssen.
Die Bundesregierung bereitet als Konsequenz aus dem Skandal derzeit einen Gesetzentwurf vor. Dabei sollen der Finanzaufsicht Bafin strengere Durchgriffsrechte verschafft werden. Sie soll in Verdachtsfällen allein Sonderprüfungen vornehmen können. Das bisherige zweistufige System mit der Deutschen Prüfstelle für Rechnungslegung (DPR) soll abgeschafft werden. Außerdem soll die zivilrechtliche Haftung von Wirtschaftsprüfern verschärft werden.
Wirtschaftsprüfer laufen bereits Sturm gegen die geplanten Neuregelungen. Der Chef des Instituts der Wirtschaftsprüfer (IDW), Klaus-Peter Naumann, rechnet mit "katastrophalen Folgen" insbesondere für die mittleren und kleineren Prüfungsgesellschaften.
Erstes Gläubigertreffen
Unterdessen ist für den kommenden Mittwoch (18.11.) auch die erste Gläubigerversammlung bei Wirecard angesetzt. Beobachter erwarten, dass Insolvenzverwalter Michael Jaffé ein Ergebnis über die Verkaufsverhandlungen für das Kerngeschäft des Zahlungsabwicklers präsentieren will. Zuletzt war die Rede von zwei Bietern, die die Bücher prüften. Zum Kerngeschäft zählen Kreditkartenzahlung und -abwicklung, aber auch die nicht insolvente Wirecard-Bank. Die spanische Großbank Santander und der britische Telekomanbieter Lycamobile galten jüngst als aussichtsreichste Interessenten.
Insolvenzverwalter Jaffé wirft den Ex-Managern vor, vor der Pleite im Juni noch Geld beiseitegeschafft zu haben. Wirecard sei "in den letzten Monaten vor der Insolvenz leergeräumt" worden, heißt es in einem Brief Jaffés an die Belegschaft, aus dem die Nachrichtenagentur Reuters zitierte. Einem Unternehmen vor der Insolvenz Geld zu entziehen, gelte als betrügerischer Bankrott.
Das Amerika-Geschäft des früheren DAX-Konzerns hat Jaffé bereits Ende Oktober an die von Finanzinvestoren gestützte US-Holding Syncapay verkauft. Jaffé sprach von einem "wichtigen Meilenstein bei der Verwertung des Vermögens der Wirecard AG". Wirecard North America gibt vor allem vorbezahlte Kreditkarten aus und galt als einer der werthaltigsten Teile des Wirecard-Konzerns. Branchenkreise gehen von 300 Millionen Euro Verkaufserlös aus - angesichts der Milliardenschäden eher ein Tropfen auf dem heißen Stein.