LONDON/BERLIN (dpa-AFX) - Mit Flugverboten und Grenzschließungen rüstet sich Europa gegen eine in Großbritannien entdeckte, hoch ansteckende Variante des Coronavirus. Auch die Bundesregierung prüft harte Maßnahmen. Die EU peilt einen gemeinsamen Ansatz an. "Wir sind in Kontakt mit den Mitgliedstaaten, um den Informationsaustausch zu steigern, und um zu prüfen, wie sie sich koordinieren können", sagte ein Sprecher der EU-Kommission in Brüssel am Sonntag auf Anfrage. Mehrere Länder wie Belgien ud die Niederlande preschten vor und lassen keine Einreisen aus dem Vereinigten Konigreich mehr zu.
Die Virus-Mutation ist nach britischen Behördenangaben bis zu 70 Prozent ansteckender als die bisher bekannte Form und weitet sich vor allem in London und Südostengland rasant aus. Für die Region ordneten die Behörden einen Shutdown mit Ausgangs- und Reisesperren an.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, Bundeskanzlerin Angela Merkel, EU-Kommissionspräsidenten Ursula von der Leyen und Charles Michel, Präsident des Europäischen Rates, erörterten in einem Telefonat die neue Corona-Lage. Nach Angaben aus Elysée-Kreisen habe ein gemeinsames Vorgehen angesichts der neuen Variante des Coronavirus im Mittelpunkt der Gespräche gestanden. Macron hat noch für Sonntagabend einen Verteidigungsrat einberufen.
Die britische Regierung zeigte sich besorgt über die Virus-Mutation. "Sie ist außer Kontrolle, und wir müssen sie wieder unter Kontrolle bekommen", sagte Gesundheitsminister Matt Hancock am Sonntag der BBC. Premierminister Boris Johnson betonte aber, es gebe keine Hinweise darauf, dass die Mutation schwerere Krankheitsverläufe oder eine höhere Sterblichkeitsrate auslöse oder dass Impfstoffe gegen die Mutation weniger effektiv seien.
In Deutschland ist die neue Variante nach Angaben von Christian Drosten von der Berliner Charité bisher nicht aufgetaucht. Die Verbreitung könne Zufall sein, schrieb der Corona-Experte auf Twitter. Die Mutationen verschafften dem Virus nicht zwingend einen Selektionsvorteil, auch wenn das möglich sei. Ein Selektionsvorteil kann dazu führen, dass sich ein Virus leichter ausbreiten kann.
Aus Kreisen des Bundesgesundheitsministeriums in Berlin hieß es, Einschränkungen der Flüge aus Großbritannien und auch aus Südafrika seien "eine ernsthafte Option". Der Virologe Alexander Kekulé sagte dem MDR, ein Flugverbot biete "möglicherweise noch eine Chance", die Ausbreitung zu verhindern.
Andere Länder handelten sofort: Die Niederlande sagten Flüge von und nach Großbritannien ab, auch Belgien schließt für mindestens 24 Stunden seine Grenzen zu Großbritannien. Das betrifft auch den Eurostar-Zug durch den Tunnel unter dem Ärmelkanal. Die italienische Regierung will die Flugverbindungen mit Großbritannien wegen der Corona-Lage in England aussetzen, Österreich kündigte ebenfalls ein Landeverbot an. Auch die britischen Landesteile Wales und Schottland verschärften die Restriktionen.
Londons Bürgermeister Sadiq Khan zeigte Verständnis für den Shutdown, bei dem nicht lebensnotwendige Geschäfte und Einrichtungen schließen müssen. Zugleich kritisierte er die Regierung, die noch vor wenigen Tagen an den geplanten Weihnachts-Lockerungen festgehalten hatte. "Es ist das Hin und Her, das zu so viel Angst, Verzweiflung, Trauer und Enttäuschung führt", sagte Khan der BBC. "Wenn wir unsere Meinung immer wieder ändern, macht es das Leuten wie mir wirklich schwer, die Menschen zu bitten, uns zuzuhören." Premier Johnson hatte noch vor kurzem an den geplanten Lockerungen über Weihnachten festgehalten.
Nun ergriff seine Regierung strenge Maßnahmen. Mehr als 16 Millionen Menschen sind betroffen, die ihre Häuser nur noch zur Arbeit und in Ausnahmen wie Arztbesuchen oder Lebensmitteleinkäufen verlassen dürfen. "Wir opfern die Möglichkeit, unsere Lieben dieses Weihnachten zu sehen, damit wir eine bessere Chance haben, ihr Leben zu schützen, damit wir sie bei zukünftigen Weihnachten sehen können", so Johnson.
In London und in anderen Regionen gilt nun die neue höchste Corona-Stufe 4. Einwohner dürfen das Gebiet nicht verlassen. Nach Bekanntgabe der schärferen Maßnahmen machten sich zahlreiche Menschen noch am Samstagabend spontan auf den Weg, um aus London abzureisen. Fotos und Videos zeigten volle Bahnhöfe. Minister Hancock schloss nicht aus, dass die schärferen Maßnahmen "in den kommenden Monaten" in Kraft blieben, bis flächendeckend gegen Corona geimpft worden sei.
Ersten Analysen britischer Wissenschaftler zufolge verfügt die neue Variante über ungewöhnlich viele genetische Veränderungen, vor allem im Spike-Protein. Dieses Protein benötigt das Virus, um in Zellen einzudringen. Der in Großbritannien eingesetzte Impfstoff des Mainzer Unternehmens Biontech
Experten zeigten sich zuversichtlich, dass der Impfstoff auch gegen die neue Variante wirkt. "Ich sehe da derzeit keinen Grund für Alarm", sagte Richard Neher vom Biozentrum der Universität Basel. Auch Andreas Bergthaler von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (CeMM) in Wien hält die derzeitige Entwicklung nicht für "wahnsinnig alarmierend". Dass Mutationen auftauchen sei nicht ungewöhnlich, derzeit wisse man nicht, ob die beobachteten Veränderungen entscheidenden Einfluss auf die Eigenschaften des Erregers haben.
Großbritannien hatte am 8. Dezember mit einer Massenimpfung begonnen. Gesundheitsminister Hancock erwartet, dass bis Sonntagabend eine halbe Million Menschen versorgt sind. Großbritannien ist bereits jetzt eines der am schwersten von der Pandemie betroffenen Länder mit insgesamt mehr als zwei Millionen Infektionen und mehr als 80 000 Todesfällen in Verbindung mit dem Coronavirus./bvi/DP/nas
Quelle: dpa-Afx