HANNOVER (dpa-AFX) - Die Corona-Krise hat die Reisebranche so schwer getroffen wie kaum einen anderen Wirtschaftssektor. Nicht nur die Lufthansa
DAS IST LOS BEI TUI:
Die Corona-Pandemie hat die Reisebranche in eine Krise nie gekannten Ausmaßes gestürzt. Von Mitte März bis Mitte Juni konnten die Menschen in Europa fast gar nicht mehr ins Ausland verreisen. Auch Tui brach praktisch das gesamte Geschäft weg. Statt Reisen zu verkaufen, musste Tui Millionen gebuchte Reisen rückabwickeln.
In den Monaten April bis Juni verlor der Konzern wegen des Reisestopps unter dem Strich rund 1,4 Milliarden Euro. Ein Jahr zuvor hatte er noch 23 Millionen Euro verdient. Der Umsatz sackte um 98,5 Prozent auf nur noch 72 Millionen Euro ab, so dass das Geld für die Deckung der Betriebskosten nicht ausreichte.
Damit Tui in der Krise nicht untergeht, sicherte sich Konzernchef Fritz Joussen früh Unterstützung aus Berlin. Noch im März sagte die Bundesregierung dem Konzern einen Staatskredit über 1,8 Milliarden Euro zu. Geld, das womöglich nicht reicht. Inzwischen stehen weitere 1,2 Milliarden Euro bereit - samt der Option für den Staat, mit bis zu neun Prozent als Großaktionär bei Tui einzusteigen.
Denn ein Ende der Krise ist noch nicht in Sicht. Nachdem Tui nach der Aufhebung vieler Reisewarnungen für die meisten EU-Staaten und einige andere Länder Mitte Juni wieder Urlauber ans Mittelmeer und auf die Kanarischen Inseln gebracht hatte, dauerte es nur wenige Wochen, bis Regierungen neue Warnungen verhängten. Inzwischen warnt das Auswärtige Amt ausgerechnet vor Reisen nach Spanien und auf die Balearen - Regionen, die zu den Lieblingszielen der Tui-Kunden in Deutschland und Großbritannien gehören. Vor wenigen Tagen weitete das Ministerium die Warnung auf die Kanaren aus - und trifft damit eines der wichtigsten Urlaubsziele für den Winter.
Joussen, der sich noch Mitte August von den Neubuchungen in der Krise begeistert gezeigt hatte, gibt sich für 2020 inzwischen kaum noch Illusionen hin. "Reisewarnungen kommen und gehen", sagte er vergangene Woche bei einer Veranstaltung der Touristik-Fachzeitschrift "fvw". "Ich gehe nicht davon aus, dass sich das im Winter groß ändern wird."
Allerdings erwartet er, dass das Reisegeschäft 2021 deutlich anzieht. Und das Jahr 2022 werde "sehr stark". Joussen zeigte sich daher zuversichtlich, dass der Konzern die Staatshilfen nach der Krise zurückzahlen kann.
Dafür spricht Joussen zufolge das Buchungsverhalten der Urlauber in der Krise. "Der Spaß an der internationalen Urlaubsreise ist ungebrochen", sagte er. So könnten Kunden, die heute einen Urlaub für die Herbstferien planten, nicht wissen, "ob es dann nicht doch irgendwo eine Reisewarnung gibt, wo es sie heute nicht gibt". Angesichts dessen müsse man sich "überhaupt wundern, dass es trotzdem solche erheblichen Buchungen gibt".
So seien seit der Wiederaufnahme des Reiseprogramms Mitte Juni binnen knapp zwei Monaten rund 1,7 Millionen Neubuchungen eingegangen. Im Juli seien dann innerhalb Europas über 500 000 Menschen mit Tui verreist.
Joussen zufolge buchen viele Kunden ihre Reisen zwar derzeit "wesentlich kurzfristiger". Andererseits gebe es für 2021 "eine relativ starke Normalisierung" bei den Buchungszahlen. Dennoch will er bei der Festlegung des Angebots vorsichtig sein: "Wir werden eher am unteren Ende planen und uns dann positiv überraschen lassen."
So und so rechnet er "für eine gewisse Zeit" mit Überkapazitäten bei Hotels, Kreuzfahrten und im Flugbetrieb. Im Fluggeschäft reagiert er mit Kürzungsplänen auf die Herausforderungen. So will er die Flotte des deutschen Ferienfliegers Tuifly auf 17 Maschinen mehr als halbieren.
Längst gibt es Spekulationen über einen möglichen Zusammenschluss von Tuifly mit der Konkurrentin Condor. Joussen wollte dies nicht direkt kommentieren. "Wir müssen das tun, was wir aus eigener Kraft machen können." Condor befindet sich nach der Pleite ihres einstigen Mutterkonzerns Thomas Cook (Neckermann Reisen) vor knapp einem Jahr in einem Schutzschirmverfahren. Eine bereits vereinbarte Übernahme durch die polnische Fluggesellschaft LOT platzte zu Beginn der Corona-Krise.
Joussen weiß, dass Tui die in der Krise entstandenen hohen Schulden bald wieder loswerden muss. Die milliardenschwere Staatshilfe sei zwar für die Krisenphase gut gewesen. "Langfristig müssen wir uns aber über den Kapitalmarkt finanzieren", sagte er. Die Anteilseigner bereitet er darauf vor, dass der Konzern das Geld mit der Ausgabe neuer Aktien hereinholen könnte - was den Wert der übrigen Anteilsscheine verwässern würde. "Wir müssen an der Bilanz etwas machen", sagte er. Möglich sei "zum Beispiel" eine Kapitalerhöhung oder ein Deal im Bereich Übernahmen und Fusionen.
Dabei könnte es auch um den Verkauf von Töchtern oder Beteiligungen gehen. So hat der Konzern seine Kreuzfahrtochter Hapag-Lloyd Cruises in das Gemeinschaftsunternehmen Tui Cruises eingebracht, das er zusammen mit dem Branchenriesen Royal Caribbean
DAS MACHT DIE AKTIE:
Hatten Aktionäre den früheren Tui-Chef Michael Frenzel bei Hauptversammlungen als Wertvernichter beschimpft, konnte sein Nachfolger Joussen bei den Aktionären ab 2013 punkten. Er holte nicht nur das 2007 ausgegliederte Veranstaltergeschäft wieder ganz unter das Konzerndach. Mit seinem Fokus auf den integrierten Reisekonzern, der Kunden im Reisebüro oder online gewinnt und mit eigenen Flugzeugen zu seinen eigenen Hotels und Kreuzfahrtschiffen bringt, brachte er die Gewinne zum Sprudeln.
Nachdem der Tui-Konzern nach der Finanzkrise 2008/2009 fast in die Pleite geschlittert und der Aktienkurs im Jahr 2011 abgesackt war, ging es fortan wieder aufwärts. Im Mai 2018 lugte der Kurs erstmals seit 2007 wieder über die Marke von 20 Euro. Von seinem Rekordhoch von um die 60 Euro aus dem Jahr 1999, als der Tui-Konzern noch Preussag hieß, blieb er indes weit entfernt.
Zudem währte die Freude über das Langzeithoch nur kurz. Erst ließ eine Preisschlacht im Last-Minute-Geschäft den Kurs fallen. 2019 schickte der Vorstand die Aktie mit zwei Gewinnwarnungen weiter abwärts. Der Zusammenbruch des Reisegeschäfts wegen der Corona-Pandemie gab dem Kurs 2020 den Rest. Mit 2,423 Euro war die Aktie Mitte März so billig wie nie. Seitdem ging es zwar zwischenzeitlich wieder bis auf mehr als 7 Euro nach oben. Doch seit Mitte Juni hat der Kurs die Marke von 5 Euro nicht mehr erreicht und lag zuletzt bei knapp 4 Euro.
DAS SAGEN ANALYSTEN:
Obwohl Tui-Aktien derzeit so billig sind wie seit acht Jahren nicht mehr, können Analysten kaum einen Grund zum Einstieg erkennen. Von den neun im dpa-AFX Analyser erfassten Branchenexperten, die ihre Einschätzung seit dem Corona-Crash an den Börsen Mitte März erneuert haben, raten sechs dazu, die Papiere abzustoßen. Drei Analysten empfehlen die Papiere zu halten. Kein einziger rät zum Kauf. Im Schnitt schreiben sie der Aktie ein Kursziel von 2,84 Euro zu - mehr als ein Viertel unter dem jüngsten Börsenkurs.
Dabei fallen die Erwartungen zumindest prozentual gesehen deutlich auseinander. Und bis auf einen Analysten, der ein Kursziel von 4,50 Euro auf dem Zettel hat, liegen alle unter dem aktuellen Niveau. Analystin Rebecca Lane vom Analysehaus Jefferies bezeichnete die zwischenzeitliche Erholung des Kurses im Frühsommer bereits im Juni als nicht gerechtfertigt. Als Grund nannte sie den Liquiditätsbedarf, der auf den Konzern zukommt. Tui könne die hohe Verschuldung langfristig nicht tragen.
Dabei kam der zweite Staatskredit über 1,2 Milliarden Euro, den sich Tui im August sicherte, für Experten nicht überraschend. Analyst Jamie Rollo von der US-Investmentbank Morgan Stanley hatte dem Konzern bereits im Mai - also nach dem ersten Staatskredit - eine Deckungslücke von mehr als einer Milliarde Euro attestiert. Daher drohe eine gewaltige Kapitalerhöhung, schrieb er - und strich sein Kursziel von 13 Euro auf 1,30 Euro zusammen.
Dabei konnten die Experten noch nicht wissen, dass einige Regierungen schon wenige Wochen nach dem Wiederanlaufen des Urlaubsgeschäfts neue Warnungen erlassen würden - was die missliche Lage der Touristikbranche wieder verschärfte. Die große Unsicherheit darüber, wie sich das Reisegeschäft in der nächsten Zeit entwickelt, zieht sich als roter Faden durch die Aktienanalysen./stw/mne/bek/jha/
Quelle: dpa-Afx