Die magische Zahl heißt 90. Weniger als 90 Prozent Wirksamkeit möchte nach den Studienergebnissen von Biontech, Pfizer und Moderna wohl kein Covid-Impfstoffentwickler melden. Nur so ist die hochgradig verwirrende Mitteilung des britisch-schwedischen Pharmakonzerns Astrazeneca und der Uni Oxford am Wochenanfang zu interpretieren. Die Kooperationspartner jonglierten in der Nachricht mit unterschiedlichen Probandengruppen und Dosisschemata, dass es dem Leser schier schwindelig werden konnte.
Verkehrte Welt: Während Experten noch im Frühjahr rätselten, ob es überhaupt möglich ist, gegen das neuartige Coronavirus zu impfen, entbrennt nun ein Wettstreit um Perfektion. Da werden 94,5 gegen 95 Prozent Wirksamkeit ausgespielt, 100 Mikrogramm gegen 30 und minus 70 gegen zwei Grad. Seit klar ist, dass es Anfang 2021 wohl drei zugelassene Impfstoffe geben wird, rückt die Frage, wie viel sich damit verdienen lässt, in den Vordergrund. Zumal an den Finanzmärkten, wo sich mit der Fantasie auf das Werkzeug zum Ende der Pandemie viel Geld verdienen ließ. Jetzt, wo Fakten auf dem Tisch liegen, stehen die Bewertungen einiger Vakzinentwickler auf dem Prüfstand. Ist noch mehr drin bei Biontech, Moderna und Co? Und was bedeuten die jüngsten Ereignisse für die Firmen, deren klinische Studien noch nicht so weit fortgeschritten sind wie die der drei führenden Unternehmen?
Nach wie vor sind wichtige Variablen für die Einschätzung der Chancen unbekannt. "Die entscheidende Frage lautet, wie nachhaltig die Immunantwort ist, die durch die Impfstoffe ausgelöst wird", sagt Kai Brüning, Portfoliomanager bei Apo Asset Management. "Wird das ein Geschäft für lediglich ein bis drei Jahre, oder lassen sich damit längerfristig wiederkehrende Umsätze erzielen?" Biontech-CEO Ugur Sahin schätzt zwar, dass die Immunisierungen nach einem Jahr aufgefrischt werden müssen. Genau wissen tut das zum aktuellen Zeitpunkt jedoch niemand.
Am meisten Umsatz dürfte im kommenden Jahr fließen, schätzen Analysten. So schnell und so viele Menschen wie möglich sollen geimpft werden. Die Anzahl der verfügbaren Dosen ist bekannt: Nahezu alles, was Moderna, Pfizer/Biontech und Astrazeneca bis Ende 2021 liefern können, ist bereits jetzt verkauft und reicht bei Weitem nicht aus, um die globale Pandemie zu stoppen. "Es gibt keine Konkurrenz", sagt Astra-Chef Pascal Soriot über das Führungstrio. Deshalb ist auch die Diskussion um ein paar Prozentpunkte mehr oder weniger Schutz oder den angeblich so großen Nachteil der Ultra-Tiefkühlung bei Biontech/Pfizer übertrieben. Erstens ist das Problem durchaus lösbar: In der Demokratischen Republik Kongo wurden beispielsweise über 300.000 Menschen mit einem auf minus 80 Grad zu transportierenden Ebola-Vakzin geimpft. Zweitens haben Biontech-Vertreter bereits angedeutet, dass es im kommenden Jahr Verbesserungen bei den Lagerbedingungen geben werde. Dass die ähnlich zusammengesetzten Substanzen von Moderna und Curevac höhere Temperaturen aushalten, ist dabei schon ein guter Indikator.
Was nach dem ersten Jahr passiert, ist weniger klar. Im Verlauf von 2021 dürften auch Sanofi, Merck & Co. und Johnson & Johnson auf den Markt drängen, wenn ihre Anti-Corona-Cocktails sich als wirksam erweisen. Sie haben riesige Produktionskapazitäten. Preise wie die von Moderna angeblich verlangten 25 bis 37 Dollar pro Dosis oder auch die rund 15,50 Euro, die die EU für eine Einheit von Biontechs und Pfizers Vakzin zahlt, dürften bei der Wettbewerbssituation nicht mehr zu halten sein. Der Kuchen des gesamten Impfstoffumsatzes wird also kleiner und muss auf mehr Esser aufgeteilt werden.
Erhöhte Erfolgswahrscheinlichkeit
Für die beiden Pioniere Biontech und Moderna ist das aber nicht so schlimm. "Der Impfstoffumsatz ist für sie wichtig und wird auch ein Kapitalpolster aufbauen. Viel entscheidender ist jedoch, dass die Technologieplattform mRNA durch den Erfolg beim Covid-Impfstoff validiert wurde", sagt Kai Brüning. Die Erfolgswahrscheinlichkeit anderer mRNA-Projekte ist gestiegen. Zudem haben die Unternehmen bewiesen, dass sie eine Entwicklung bis zur Zulassung und Produktion stemmen können.
Hier ist Moderna leicht im Vorteil, da die Amerikaner mehr mRNA- und auch mehr Impfstoffprojekte gegen Infektionskrankheiten in der Pipeline haben als die vor allem auf Krebs und verschiedene Technologien setzende Biontech. Allerdings sind sich professionelle Biotech-Investoren einig, dass auf dem aktuellen Kursniveau bereits viel davon eingepreist ist. Mit anderen Worten: Beide Aktien sind sehr teuer, auch wenn das Momentum aktuell durchaus noch für weitere Kurssteigerungen sorgen könnte.
Von den Nachzüglern sind vor allem die kleinen Firmen attraktiv, da der potenzielle Umsatz bei Pharmariesen nicht so sehr ins Gewicht fällt beziehungsweise sie wie Johnson & Johnson und Astrazeneca zunächst keine Gewinnabsicht haben. Die Tübinger Curevac ist, da sie ebenfalls auf mRNA-Technologie baut, ein weiterer heißer Kandidat für einen erfolgreichen Impfstoff. Bis zu 405 Millionen Dosen will die EU abnehmen, die Phase-3-Wirksamkeitsstudie hat jedoch noch nicht begonnen. Curevacs restliche Pipeline ist insgesamt schmaler und weniger fortgeschritten als etwa die von Biontech, dafür ist das Unternehmen aber auch noch günstiger bewertet.
Extrem spannend ist Novavax. Die kleine US-Firma galt lange als Dauerverlierer, der nichts zustande bringt. Dann überraschte das Unternehmen mit sehr guten Immunitätsdaten seines Protein-basierten Covid-Impfstoffs. Fast gleichzeitig meldete Novavax positive Ergebnisse für ein Grippevakzin. Dieser Impfstoff wird nun zur Zulassung eingereicht, der für Covid könnte im ersten Halbjahr 2021 folgen, wenn er sich als wirksam erweist. Produktionskapazitäten für über zwei Milliarden Dosen pro Jahr sind gesichert. Novavax ist dabei mit sechs Milliarden Euro noch vergleichsweise moderat bewertet.
Zwei weitere Firmen sind noch weiter von einer Impfstoffzulassung entfernt, aber für sehr risikofreudige Anleger interessant: Translate Bio ist ein amerikanischer mRNA-Entwickler, der mit Sanofi einen extrem starken Partner an seiner Seite hat. Erste klinische Tests sollen bis Jahresende starten. Die US-Firma Vaxart arbeitet an einer oral verabreichbaren Impfung in Phase 1. Ein Warnzeichen sind hier allerdings Ermittlungen von US-Behörden gegen die Firma wegen einer irreführenden Pressemitteilung und damit verbundenen Aktienverkäufen im Frühjahr.