Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer: Bei einem Brexit drohen die Märkte abzuschmieren



Herr Dr. Krämer, am 23. Juni stimmen die Briten über den Verbleib in der EU ab. Die Brexit-Fans gewinnen weiter an Zuspruch. Die Börsen reagieren zunehmend nervös. Ist das nur Theaterdonner oder wird es womöglich wirklich ernst?


Jörg Krämer: Das ist nicht nur Theaterdonner. Den Umfragen zufolge haben die EU-Befürworter die Führung eingebüßt. Der Ausgang der Volksabstimmung ist mittlerweile völlig offen. Die Märkte sorgen sich zu Recht.

Welche wirtschaftlichen Folgen hätte ein Briten-Austritt denn für die britische Wirtschaft und die EU?


Die wirtschaftlichen Folgen eines Brexit hängen vor allem davon ob, ob Großbritannien den Zugang zum EU-Binnenmarkt behält oder nicht. Wenn die EU die beleidigte Leberwurst spielt und Großbritannien das im Rahmen der Austrittsverhandlungen nicht anbietet‎, wäre der wirtschaftliche Schaden für Großbritannien beträchtlich. Denn dann würden auf den Handel mit EU-Ländern Zölle fällig. Das würde länderübergreifende Produktionsketten teilweise unrentabel machen, so dass sich Unternehmen aus Großbritannien zurückziehen könnten. Der fehlende Binnenmarktzugang würde auch die Finanzwirtschaft in London treffen, die dann nicht mehr so einfach wie bisher Dienstleistungen für Kunden in anderen EU-Ländern erbringen könnte. Aber letztlich halte ich es für wahrscheinlicher, dass die EU Großbritannien den Zugang zum EU-Binnenmarkt nicht versperrt.

Welche Folgen hätte ein Brexit für Deutschland?


Beim Brexit gäbe es keinen Gewinner - schon gar nicht die Exportnation Deutschland. Außerdem hätten die staatsgläubigen Länder aus dem Süden der Währungsunion und Frankreich eine klare Mehrheit in den EU-Gremien, so dass Deutschland mit seinen eher marktwirtschaftlichen Positionen noch mehr ins Hintertreffen geriete. Dann machte sich in der EU noch mehr Sklerose breit.

Ein Austritt eines Landes aus der EU müsste binnen zwei Jahren abgeschlossen sein. Ist das angesichts der engen Verflechtung realistisch oder droht eine lang anhaltende Phase der Unsicherheit?


Bei gutem Willen auf beiden Seiten können sie innerhalb von zwei Jahren zu einer vernünftigen Einigung kommen. Das ist auch im Interesse der EU, obwohl ihre Vertreter zuletzt gegen Großbritannien polterten. Schließlich hat die EU ein ‎tiefgreifendes Imageproblem. Wenn sie Großbritannien beim Thema Binnenmarkt das verweigerte, was sie etwa der Schweiz oder Norwegen gewährt hat, würde sie noch unsympathischer erscheinen - zumal es sich bei einer Brexit-Entscheidung um eine demokratische Entscheidung handelte.

Was würde ein Brexit und eine womöglich lange Phase der Unsicherheit denn für die Börsen bedeuten und was bedeutete ein Brexit für das britische Pfund?


Am Tag nach einer Brexit-Entscheidung würden die Märkte wohl abschmieren. Signalisierte die EU in den Tagen danach den Wunsch nach einer sauberen Scheidung, würden die Märkte sich schrittweise erholen. Läuft es dagegen wider Erwarten auf eine schmutzige Scheidung hinaus, erwarte ich länger anhaltende Turbulenzen. Das Pfund könnte gegenüber dem Dollar durchaus um 30 Prozent abwerten.

Viele Beobachter sehen auch weitreichende politische Folgen. Hat die EU ohne Großbritannien dauerhaft überhaupt noch eine Zukunft oder steht die Europäische Union nun an einem Scheideweg?


Ein Brexit wäre nicht nur ein Thema für Großbritannien, sondern auch für die EU. Schließlich gibt es in den meisten europäischen Ländern erstarkende Anti-EU-Parteien. Aus Rücksicht auf diese Kräfte wagen es die Regierungen nicht, die ungelösten Probleme der Währungsunion dadurch anzugehen, dass sie sich strengeren Haushaltsregeln unterwerfen oder in der Finanz- und Wirtschaftspolitik mehr Kompetenzen an Brüssel übertragen. Damit bleiben die Ursachen der Staatsschuldenkrise ungelöst. Das Restrisiko eines Zerfalls der Währungs‎union bleibt real.

Auf Seite 2: Robert Halver, Baaderbank: Brexit? Schlimmer als der Grexit!





Robert Halver: Brexit? Schlimmer als der Grexit!



Herr Halver, am 23. Juni stimmen die Briten über den Verbleib in der EU ab. Die Brexit-Fans gewinnen weiter an Zuspruch. Die Börsen reagieren zunehmend nervös. Ist das nur Theaterdonner oder wird es womöglich wirklich ernst?


Tatsächlich lassen die aktuellen Umfragen eine knappe Mehrheit für den Brexit erwarten. Doch muss man die Umfragemethoden vielfach als technisch prekär bezeichnen. Die Londoner Buchmacher und Wettbüros sehen eine klare Mehrheit für Bremain. Übrigens lagen die Buchmacher bei der letzten britischen Parlamentswahl mit der Wiederwahl von Cameron und dem Verbleib Schottlands im Vereinigten Königreich richtig. Dennoch ist festzustellen, dass sich das Lager der Austrittbefürworter seit etwa zwei Wochen merklich vergrößert hat.

Noch schlimmer als Grexit wäre der Brexit. Es ist schon frevelhaft und vertrauenszersetzend genug, überhaupt zu überlegen, die EU-Familie zu verlassen. Seit Gründung der EU kannte man bislang nur die Familienaufnahme, nicht die Familienaufgabe. Und wenn jetzt sogar ein großes Familienmitglied Good-bye sagen sollte, kommt damit auch ein eindeutig negatives Qualitätsurteil über die Familie selbst zum Vorschein. Die europäische Wertegemeinschaft würde deutlich an Wert verlieren.

Angesichts der diffusen Ängste der Briten auch vor einer deutschen Dominanz in der EU ist derzeit leider nicht jeder deutsche Politiker mit Fingerspitzengefühl ausgestattet. Vor der Brexit-Abstimmung am 23. Juni ist es kontraproduktiv, den Briten jetzt Verbalohrfeigen zu verpassen, indem man ihnen selbstgerecht droht, wenn das Königreich für den Austritt stimme, sei auch der Zugang zum Binnenmarkt passé: "In ist in, out ist out".

Vielleicht konnte man die Griechen in Kreditverhandlungen mit harter Rhetorik beeindrucken. Briten sind aber ein ganz anderes Kaliber. Die sind davon not amused. So schüttet man noch Brandbeschleuniger in das bereits lodernde Feuer der Austrittbefürworter. Damit schürt man die eingebildete Angst vieler Briten vor der deutschen Allmacht und dem britischen Souveränitätsverlust, was die britische Kampfpresse polemisch auszunutzen versteht.

Im Augenblick wäre schon dass vorzeitige Ausscheiden des englischen Fußballteams bei der EM in der Vorrunde Brexit-förderlich. Daher sollten vor allem deutsche Politiker einfach mal die Klappe halten.

Welche wirtschaftlichen Folgen hätte ein Briten-Austritt denn für die britische Wirtschaft und die EU?


Außerhalb des Schoßes der EU-Familie wird es Großbritannien dreckig ergehen. Dabei haben die Briten trotz einer prekären Beziehung zur EU, die dem manchmal schwierigen Verhältnis zwischen Schwiegermutter und Schwiegersohn ähnelt, bei einem Ausstieg Einiges zu verlieren. Wirtschaftlich wird es den Exit-Briten - Sozialhilfeempfänger, Krankenversicherte, Beschäftige, Unternehmen, Rentnern - schlechter gehen. Von der EU als größtem Wirtschaftsraum der Welt mit ist man dann geographisch auf den Ärmelkanal bezogen zwar nur 28 km entfernt, aber handelspolitisch so weit weg wie vom Mars. Man ist von den üppigen Fleischtrögen abgekoppelt. Das wird auch die britischen Finanzmärkte nicht kalt lassen. Der britische Aktienindex Footsie könnte zum Futzi-Index werden und mit dem britischen Pfund wäre kein Wuchern mehr möglich.

Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben, aber die Suche danach sehr schwierig. Die "EU-befreiten Briten" werden, nachdem sie ihre "splendid isolation", ihre handelstechnische Insellage erreicht haben, versuchen, eigene wirtschaftspolitische Standbeine aufzubauen. Man wird das Commonwealth of Nations als Nachfolger des British Empire aufwerten wollen. Doch dieser lockere Zusammenschluss unabhängiger Staaten wird die EU nicht annähernd ersetzen, zumal ihre gut 50 Staaten eigene Interessen vertreten, die ausgerechnet auch darin bestehen, mit der EU Geschäfte zu machen. Sicherlich wird Großbritannien alles daran setzen, eine Kurswende bei der Regulierung seines Finanzplatzes durchzuführen. Mit Deregulierung will man die guten alten Finanz-Zeiten wiederbeleben und eine attraktive Alternative zu den Finanzplätzen auf dem Kontinent bieten. Doch auch dieser Prozess wird seine Zeit brauchen, wenn er mit Blick auf eine global eingezäunte Finanzindustrie überhaupt Erfolg verspricht. Teile der Londoner Finanzindustrie könnten sich in der Zwischenzeit sogar veranlasst sehen, der Londoner City mit Verlagerung ihrer Geschäfte nach Dublin, Frankfurt oder Luxemburg fremdzugehen. Auch die Beziehungsintensivierung mit dem angelsächsischen Blutsbruder Amerika wird schwierig. Polit-Amerika könnte sogar richtig sauer auf seinen europäischen Lieblingspartner werden, der ihnen nach Brexit eine weitere geostrategische Baustelle, diesmal in Europa beschert.

Und für Deutschland?


Denn wenn du gehst, dann geht auch ein Teil von mir. Natürlich darf man den Briten nicht alles durchgehen lassen. Die Mitgliedschaft in der EU ist keine Mitgliedschaft wie bei einem Wohlfahrtsverein, wo man möglichst viel entnimmt und wenig gibt. Der Britenrabatt bei der EU-Vereinsgebühr ist gelinde gesagt eine Unverschämtheit. Es geht um das lateinische Sprichwort "manus manum lavat": Eine Hand wäscht die andere: Leistung und Gegenleistung.

Wahr ist aber auch, dass Deutschland in der EU am meisten verliert, wenn die Briten gehen. Trotz vorhandener "Nickeligkeiten" zwischen Briten und Deutschen verbindet uns viel. Beide Länder stehen für Europäische Stabilitätsunion, nicht für Romanische Schuldenunion, die nur von Geldpolitiks Gnaden zusammengehalten wird wie von Pattex. Ohne die Briten wird es für Deutschland allein noch schwieriger sein, den stabilitätslosen und investitionsfeindlichen Hühnerhaufen der EU marktwirtschaftlich zu beeinflussen. Dann sind wir der "Last Man Standing". Und für den deutschen Export nach Großbritannien ist ein Brexit mit unklaren handelsrechtlichen Bedingungen auch kein Grund "Hurra" zu schreien.

Und im großen geostrategischen Möbelhaus wird die EU ohne die großen Briten als Militärmacht und ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat schnell auf die Abteilung Mitnahmemöbel degradiert.

Der deutsch-britische Motor ist wichtig. Dieser hat dafür zu sorgen, dass auch vor allem nationalbetreffende Angelegenheiten auch national entschieden werden und für die europäische Allgemeinheit betreffende Verfassung europäisch entschieden wird. Die deutsch-britische Achse hat nicht die Aufgabe, möglichst vielen EU-Bürokraten auskömmliche Einkommen zu bescheren.

Ein Austritt eines Landes aus der EU müsste binnen zwei Jahren abgeschlossen sein. Ist das angesichts der engen Verflechtung realistisch oder droht eine lang anhaltende Phase der Unsicherheit?


Das ist technisch zwar möglich. Aber alle Handelsverträge mit der EU müssen in einem schmutzigen Scheidungskrieg innerhalb von zwei Jahren völlig gekappt und müssen neuverhandelt werden. Und wie die Erfahrung mit Norwegen oder auch der Schweiz gezeigt haben, werden Neuverhandlungen deutlich länger als zwei Jahre benötigen. So mancher EU-Politiker wird sein Mütchen kühlen wollen und die Exit-Briten schmoren lassen wie frühere Strafgefangene im Tower of London. Ohnehin wird man den Briten außerhalb der EU keinen gleichwertigen, geschweige denn besseren Deal als innerhalb der europäischen Familie anbieten. Ansonsten könnten nach Onkel Cameron noch andere Familienmitglieder auf dumme Gedanken kommen. Überhaupt, welcher Handelspartner will denn offensiv Handelsgeschäfte mit Briten oder EU-Geschäftsleute machen, wenn die neue rechtliche Basis dafür noch unklar ist. Das wäre doch wie der Kauf einer Wundertüte, dessen Inhalt man nicht kennt. Im Zweifelsfall macht man weniger oder gar keine Geschäfte. Beide Seiten werden sich mit Investitionen zurückhalten. Und wenn das hundertausendfach passiert, ist damit natürlich auch ein volkswirtschaftlicher Reibungsverlust zu erwarten. Allerdings würde Großbritannien noch heftiger getroffen als die Rest-EU.

Was würde ein Brexit und eine womöglich lange Phase der Unsicherheit denn für die Börsen bedeuten? Rechnen Sie mit einem kurzen Rückschlag und einer Erholung wie wir es bei politisch einschneidenden Ereignissen schon häufig gesehen haben oder liegt der Fall dies Mal anders?


Wenn die Briten sich tatsächlich für den Ausstieg entscheiden, wird das die Finanzmärkte irritieren, der Euro könnte deutlich schwächer werden. Allerdings haben die Märkte ja auch schon Einiges abgegeben, dort wird der Brexit-Blues bereits gespielt. Die Rendite 10-jähriger deutscher Staatspapiere als Aushängeschild auf dem europäischen Rentenmarkt ist unter null gefallen und Gold steigt. Die Notenbanken werden zur Not Gegenmaßnahmen ergreifen, so dass sich die Märkte zwischenzeitlich wieder erholen können, zumal der Trennungsprozess über zwei Jahre läuft. Es werden ja nicht am 24. Juni alle Wirtschaftsbeziehungen zu Großbritannien sozusagen auf einen Schlag platt gemacht. Und ein schwächerer Euro könnte sogar für Exportphantasie in Deutschland sorgen.

Es geht aber um die fatalen langfristigen Kollateralschäden eines Brexit. Er wäre das Gift, dass langsam wirkt und an dessen Ende die Eurosklerose steht. Ist erst einmal der Bann des ersten Austritts gebrochen, könnte die Austreteritis streuen. Man hätte mit dem Brexit ein politisches Vorbild, vielleicht sogar ein Wahlkampfmaskottchen z.B. im französischen Präsidentschaftswahlkampf 2017 geschaffen. Die Frage des Frexit käme schnell auf die politische Agenda. Und die EU und der Euro könnten auch in anderen Staaten als Sündenböcke für alles wirtschaftlich und sozialpolitisch Negative herhalten, die man insofern doch am liebsten verlassen sollte. Vor jeder Parlamentswahl würde die politische Unsicherheit zunehmen.

Nach einem tatsächlichen Brexit könnte eine schlechter werdende (wirtschafts-)politische EU-Stimmung Investoren und Konsumenten veranlassen, ihr Portemonnaie zuzunageln und zunächst einmal abzuwarten. Und Abwarten ist das Schlimmste, was man einer Konjunktur antun kann. Warten fördert Deflation und damit noch weitere Zurückhaltung beim Geld ausgeben. Die EU würde als Investitionsstandort immer unattraktiver. Die Investitionswelt ist groß und bunt und das internationale Kapital so beweglich wie junge Hunde. Auf Europa als Industriemuseum hat niemand gewartet. Die im wahren und übertragenen Sinne kleine Union EU könnte langfristig zum Spielball in der geostrategischen Welt werden. Im Extremfall werden wir zwischen den Großmächten wie USA oder China politisch zerrieben wie italienischer Parmesan in einer deutschen Käsereibe. Europa würde zum Operettenstaat. Und warum sollten bei beginnender Eurosklerose die europäischen Aktienmärkte ihre bislang schon gezeigte Kurszurückhaltung aufgeben? Längerfristig wäre ein Brexit ein Horrorszenario für die Märkte. Sollten die Briten sich allerdings für den Verbleib in der EU entscheiden, gehen vor allem die Aktienmärkte durch die Decke.

Auch das britische Pfund ist angesichts der Brexit-Diskussion arg unter Druck. Wie weit könnte das Pfund noch fallen, falls die Briten sich aus der EU verabschieden?


Das britische Pfund hat ja bereits gegenüber Euro vom Höchststand im November 2015 bis jetzt 12 Prozent verloren. Jetzt steht es bei 1,2627. Unmittelbar nach Brexit-Entscheidung könnte es zwar im Tiefpunkt bis 1,15 abwerten. Mit Blick auf die zwei langen Trennungsjahre ist eine zwischenzeitliche Erholung jedoch wieder möglich.

Viele Beobachter sehen auch weitreichende politische Folgen. Hat die EU ohne Großbritannien dauerhaft überhaupt noch eine Zukunft oder steht die Europäische Union nun an einem Scheideweg?


Ist erst einmal der Bann des ersten Austritts gebrochen, könnte die Austreteritis streuen. Es gäbe eine offene Flanke im Nordwesten der EU. Man hätte mit dem Brexit ein politisches Vorbild, vielleicht sogar ein Wahlkampfmaskottchen z.B. im französischen Präsidentschaftswahlkampf 2017 geschaffen. Die EU und der Euro könnten in vielen Staaten als Sündenböcke für alles wirtschaftlich und sozialpolitisch Negative herhalten, die man insofern doch am liebsten verlassen sollte. Vor jeder Parlamentswahl würde die politische Unsicherheit zunehmen. Die Briten sind in Europa die Fahnenträger möglichst stabiler Staatshaushalte und Reformbegeisterung im Hinblick auf investitionsfreundliche Wirtschaftsstandorte. Den Deutschen ginge ein marktwirtschaftlicher Waffenbruder verloren. Die "Rest-EU" bestünde aus Politikern, die Schuldenfrönerei mit Bezahlung durch die EZB für ordentliche Wirtschaftspolitik halten. Das ist aber genau das süße Gift, das die EU in einer globalisierten Welt Wettbewerbsfähigkeit kostet und langsam, aber langfristig zu einem Industriemuseum macht. Die EU würde als Investitionsstandort immer unattraktiver. Auf Europa hat niemand gewartet. Die Investitionswelt ist groß und bunt und das internationale Kapital so munter wie junge Hunde. Die kleine Union EU könnte langfristig zum Spielball in der geostrategischen Welt werden. Im Extremfall werden wir zwischen den Großmächten wie USA oder China politisch zerrieben wie italienischer Parmesan in einer deutschen Käsereibe. Europa würde zum Operettenstaat.

Liebe Briten, man muss kein Freund Eurer Küche sein. Aber bleibt bitte bei uns. Ansonsten verfängt sich der EU-Karren in den Brüsseler Spitzen.

Auf Seite 3: Stefan Bielmeier, Chefvolkswirt DZ Bank: "Rezession nicht ausgeschlossen"





Stefan Bielmeier, Chefvolkswirt DZ Bank: "Rezession nicht ausgeschlossen"



Herr Bielmeier, am 23. Juni stimmen die Briten über den Verbleib in der EU ab. Die Brexit-Fans gewinnen weiter an Zuspruch. Die Börsen reagieren zunehmend nervös. Ist das nur Theaterdonner oder wird es womöglich wirklich ernst?


Der Trend der letzten Umfragen ist besorgniserregend. Die Brexit-Befürworter haben deutlich an Zuspruch gewonnen und liegen derzeit in mehreren großen Umfragen vorne. Zwar gehen wir nach wie vor davon aus, dass die Briten sich letzten Endes für den Verbleib in der EU entscheiden, die Gefahr eines Leave-Votums ist derzeit allerdings signifikant.

Welche wirtschaftlichen Folgen hätte ein Briten-Austritt denn für die britische Wirtschaft und die EU?


Bei einem EU-Austritt verliert Großbritannien den uneingeschränkten Zugang zum europäischen Binnenmarkt. Bis die Handelsbeziehungen auf bilateraler Basis neu ausgehandelt sind, kann es Jahre dauern. Das Wirtschaftswachstum würde stark belastet. Für ausländische Investoren würde Großbritannien als Standort erheblich an Attraktivität verlieren. Vor allem der Finanzsektor dürfte leiden, wenn ganze Geschäftsfelder in andere EU-Staaten verlagert werden. Die Investitionstätigkeit würde schon vor dem Austritt der Briten signifikant sinken. Bereits jetzt sorgt die Unsicherheit vor dem Referendum für "Bremsspuren". Im Austrittsjahr würde das Wirtschaftswachstum wohl vollständig zum Erliegen kommen - auch eine Rezession ist nicht ausgeschlossen.

Und für Deutschland?


An der Europäischen Währungsunion ginge ein Konjunkturabschwung oder gar eine Rezession auf den britischen Inseln nicht spurlos vorüber. Schließlich ist auch Großbritannien für die übrigen EU-Mitglieder ein wichtiger Absatzmarkt - allen voran für das Nachbarland Irland, aber auch für die deutsche und die französische Wirtschaft. Die Exportkonjunktur würde rasch und deutlich ausgebremst. Geriete mit dem "Brexit"-Votum die Frage des Zusammenhalts der EU, oder gar der EWU wieder in den Fokus, könnte die Krise im Rest Europas sogar eine eigenständige und kritische Dynamik entwickeln.

Ein Austritt eines Landes aus der EU müsste binnen zwei Jahren abgeschlossen sein. Ist das angesichts der engen Verflechtung realistisch oder droht eine lang anhaltende Phase der Unsicherheit?


Die zweijährige Übergangsphase zwischen der Vereinbarung des Austritts und dem Schritt selbst ist relativ knapp bemessen, vor allem um alle juristischen Verflechtungen zu regeln. Bevor die Zweijahres-Frist aber beginnt, muss zunächst das britische Unterhaus die Antragstellung verabschieden und von Seiten der Europäischen Kommission eine Austrittsvereinbarung vorbereitet werden, die dann noch das Europaparlament und den Rat der Regierungschefs passieren muss. Schon dies wird mehrere Monate dauern. Sicherlich droht eine lange Phase der Unsicherheit. Sie wird aber vor allem mit dem vermutlich recht lange ungeklärten Status der Handelsbeziehungen einhergehen. Ein bilaterales Freihandelsabkommen auszuhandeln wird Jahre dauern. Ob sich Großbritannien andererseits auf Abkommen nach Norwegischem oder Schweizer Vorbild einlässt, ist fraglich, da diese Vereinbarungen Zahlungen an den EU-Haushalt sowie die Akzeptanz der Personenfreizügigkeit beinhalten. Aber gerade diese Aspekte werden in der britischen Bevölkerung als besonders kritisch gesehen. Vor allem die Investitionen würden unter der Unsicherheit leiden.

Was würde ein Brexit und eine womöglich lange Phase der Unsicherheit denn für die Börsen bedeuten? Rechnen Sie mit einem kurzen Rückschlag und einer Erholung wie wir es bei politisch einschneidenden Ereignissen schon häufig gesehen haben oder liegt der Fall dies Mal anders?


Die Verschlechterung der Umfragen hat den Markt zuletzt zunehmend nervös gemacht, dennoch ist ein Brexit derzeit nicht eingepreist. In Votum für den Austritt würde an den Finanzmärkten für deutliche Ausschläge sorgen. Diese werden u.E. nach vor allem in den ersten Wochen nach dem Referendum äußerst dynamisch und volatil sein. Wie anhaltend die Nachwehen des Referendums sind, wird maßgeblich davon abhängen, was im Nachgang des Referendums geschieht. Kann sich David Cameron halten? Akzeptiert die britische Regierung das Resultat des Referendums und stellt einen Antrag auf Verhandlungen mit der EU? Wie reagiert die EU? Wie groß sind die politischen Auswirkungen des Brexits auf die E(W)U? Vorstellbar sind dabei eine weite Bandbreite an Szenarien: im besten Fall klingt die Panik schnell ab, im schlimmsten Fall löst der Brexit eine anhaltende Krise aus.

Auch das britische Pfund ist angesichts der Brexit-Diskussion arg unter Druck. Wie weit könnte das Pfund noch fallen, falls die Briten sich aus der EU verabschieden?


Der Austritt eines Landes aus der EU wäre ein völliges Novum und die enorme resultierende Unsicherheit würde nicht ohne Auswirkungen bleiben. Da ein "Brexit" derzeit nicht eingepreist ist, würde ein "Leave" aus Sicht des Marktes zunächst einen massiven Schock darstellt. Der Euro könnte gegenüber dem Pfund unter diesen Umständen in einer ersten Reaktion 10-15 Prozent in die Höhe schnellen und auch die Renditen könnten rapide ansteigen. Zwar gehen wir nicht davon aus, dass ein "Brexit" die Briten in eine Zahlungsbilanzkrise führt, solche Horrorszenarien würden am Markt aber ohne Frage durchgespielt werden, zumal sich das Leistungsbilanzdefizit der Briten zuletzt deutlich ausgeweitet hat. Sollte der Eindruck entstehen, dass auch Downing Street von dem Ergebnis des Referendums vollkommen überrumpelt wurde, sich sogar Spekulationen verdichten, dass die Regierung Camerons an dem Ergebnis scheitern könnte, würde dies die ohnehin schon hohe Unsicherheit noch weiter verschärfen. EUR-GBP Notierungen um die Parität wären in diesem Szenario durchaus wahrscheinlich, während GBP-USD zum ersten Mal seit den 1980ern unter die Marke von $1,20 fallen könnte.

Viele Beobachter sehen auch weitreichende politische Folgen. Hat die EU ohne Großbritannien dauerhaft überhaupt noch eine Zukunft oder steht die Europäische Union nun an einem Scheideweg?


Die politischen Folgen können sehr weitreichend sein. Wenn die EU sich unglücklich verhält, dürfte am Ende eine deutliche Schwächung der EU die Folge des Brexit sein. Die EU steht hier also an einem Scheideweg. In den folgenden Monaten gilt es für die EU sich relativ geschlossenen zu präsentieren und mögliche weitere Tendenzen der Fragmentierung frühzeitig einzudämmen. Dafür ist es aber auch notwendig, dass die EU in den dann anstehenden Verhandlungen mit Großbritannien klar zu ihren Werten steht und eben nicht auf immer weitergehende Forderungen eingeht. Hierin liegt vielleicht auch eine Chance für Europa. Kommt es zum Austritt, könnte der Wegfall des Bremsklotzes integrative Kräfte freisetzen und das Zusammenwachsen der übrigen Mitgliedsstaaten beschleunigen. Eine solche Entwicklung könnte mittelfristig sogar positiv sein für die EU.

Auf Seite 4: Allianz-Chefvolkswirt Michael Heise: "Beträchtliche Rückschläge an den Finanzmärkten"





Allianz-Chefvolkswirt Michael Heise: "Beträchtliche Rückschläge an den Finanzmärkten"



Herr Prof. Heise, am 23. Juni stimmen die Briten über den Verbleib in der EU ab. Die Brexit-Fans gewinnen weiter an Zuspruch. Die Börsen reagieren zunehmend nervös. Ist das nur Theaterdonner oder wird es womöglich wirklich ernst?


In vorherigen Referenden hat sich gezeigt, dass Wähler vor einem Volksentscheid gerne mal mental die Alternative durchspielen - nur um sich dann in letzter Minute wieder auf den sicheren Status quo zu besinnen. Das derzeitige Abschmelzen des Vorsprungs für ‚Remain‘ sollte also keine unmittelbare Panik auslösen. Es könnte sogar den Befürwortern der EU Mitgliedschaft helfen, wenn die besorgniserregenden Umfragewerte nächste Woche mehr pro-Europäer zu den Wahlurnen treiben. Der Ausgang des Referendums wird ganz entscheidend von der Wahlbeteiligung abhängen, denn die Europa-Gegner sind motivierter an der Abstimmung teilzunehmen als die, die zwar für eine Mitgliedschaft sind aber dem Europa-Thema eine eher geringere Bedeutung beimessen.

Dennoch bleibt das Risiko eines ‚Leave‘ Votums signifikant. Und die derzeitigen Umfragen zeigen auch deutlich, wie weit verbreitet der Unmut der Briten ist über die EU, insbesondere über Arbeitnehmer-Freizügigkeit und Souveränitätsverlust. Dieser Unmut könnte auch nach einer pro-EU Entscheidung die Politik im Königreich weiterhin destabilisieren.

Welche wirtschaftlichen Folgen hätte ein Briten-Austritt denn für die britische Wirtschaft und die EU?


Unmittelbar nach dem Referendum würden die Risikoprämien und Kreditkosten für den öffentlichen und privaten Sektor steigen. Die schon jetzt erkennbare Nachfragezurückhaltung und die sinkende Investitionsbereitschaft von Ausländern in Großbritannien dürften das Wachstum Großbritanniens deutlich schwächen.

Die bei einem Austritt nötige Neuaushandlung der Beziehung zur EU wird Großbritannien auch längerfristig hoher wirtschaftlicher und politischer Unsicherheit aussetzen. Diese könnte das jährliche Wachstum des BIP in den Jahren nach dem Austrittsvotum ein bis zwei Prozentpunkte niedriger ausfallen lassen. Der wirtschaftliche Schaden könnte durch politische Ereignisse noch verschlimmert werden, etwa eine Spaltung der konservativen Partei und einen Rücktritt David Camerons oder ein erneutes Referendum zur Unabhängigkeit Schottlands. Auch die Eurozone und der Rest Europas würden in Mitleidenschaft gezogen. Großbritannien ist die zweitgrößte Volkswirtschaft der EU. Die Länder mit engen Verbindungen im Bereich Finanzen, Handel und Investitionen zu Großbritannien dürften am stärksten betroffen sein, insbesondere Irland und die Benelux-Länder.

Exporteure nach Großbritannien würden unter der Abwertung des Pfunds und der gesunkenen Nachfrage leiden. Ferner käme es zu Störungen der Lieferketten, insbesondere im Automobilbereich. Wegen der Unruhen an den Finanzmärkten und den sich eintrübenden Wirtschaftsprognosen, könnte die EZB das Ende ihrer extrem lockeren Geldpolitik noch hinauszögern.

Die Konsequenzen für den Rest der EU wären allerdings nicht nur negativ. Einige EU-Länder würden von der Umleitung ausländischer Direktinvestitionen und qualifizierter Arbeitnehmer zulasten des Inselstaats profitieren. Einzelne Berufsgruppen, insbesondere im Dienstleistungssektor, würden vorübergehend profitieren, wenn die britische Konkurrenz den völlig freien Zugang zu den EU-Inlandsmärkten verliert.

Welche Auswirkungen erwarten Sie im Brexit-Falle für Deutschland?


Großbritannien ist für Deutschland ein sehr wichtiger Wirtschaftspartner. Die deutsche Warenausfuhr in das Vereinigte Königreich betrug 2015 fast 90 Mrd. EUR, die Bestände an Direktinvestitionen kumulieren sich auf über 100 Mrd. EUR. Jede wirtschaftliche Schwäche der Insel schadet auch der deutschen Wirtschaft. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass sich bereits die Unsicherheiten und Unwägbarkeiten, die mit einem Brexit verbunden wären, auf die Wirtschaftsstimmung in Deutschland negativ auswirken dürften. Die konjunkturdämpfenden Effekte könnten deutlich spürbar sein. Ein Wachstumsverlust von einem Prozentpunkt kumuliert über zwei bis drei Jahre könnte zusammenkommen.

Ein Austritt eines Landes aus der EU müsste binnen zwei Jahren abgeschlossen sein. Ist das angesichts der engen Verflechtung realistisch oder droht eine lang anhaltende Phase der Unsicherheit?


Theoretisch könnten die andern EU Regierung einstimmig eine Verlängerung der Verhandlungsphase über 2018 hinaus beschließen. Oder London und Brüssel könnten sich darauf einigen, den Austrittsvertrag von der Neugestaltung der bilateralen Beziehungen zu trennen. EU-Ratspräsident Donald Tusk warnte vor kurzem, dass dann die Neugestaltung der Beziehungen noch mal "mindestens fünf Jahre" in Anspruch nehmen würde. In der Praxis haben sowohl die EU als auch Großbritannien ein starkes Interesse daran, möglichst schnell einen neuen Rechtsrahmen für die wirtschaftlichen Beziehungen zu erstellen. Einfach wären die Verhandlungen keinesfalls. Einerseits kann es die EU nicht zulassen, dass sich London die "Rosinen herauspickt", wenn es um die Vorzüge der EU geht und gleichzeitig die unbequemen Verpflichtungen einer Mitgliedschaft von sich weist. Einen solchen Präzedenzfall würden sich schnell andere EU-Länder zunutze machen, um ihrerseits Sonderforderungen zu stellen. Auch würde ein zu großzügiges Brexit-Abkommen Populisten in anderen EU Ländern helfen, ihren eigenen Forderungen nach einem EU Austritt Nachdruck zu verleihen.

Andererseits haben viele europäische Regierungen ein ausgeprägtes Interesse daran, weiterhin enge Beziehungen zu Großbritannien zu pflegen und mit London in der Außen- und Sicherheitspolitik eng zusammenzuarbeiten. Konfrontation und Kompromiss würden sich also während der Verhandlungen die Waage halten.

Was würde ein Brexit und eine womöglich lange Phase der Unsicherheit denn für die Börsen bedeuten? Rechnen Sie mit einem kurzen Rückschlag und einer Erholung wie wir es bei politisch einschneidenden Ereignissen schon häufig gesehen haben oder liegt der Fall dies Mal anders?


Kurzfristig dürfte ein Votum für den Austritt zu beträchtlichen Rückschlägen an den Finanzmärkten führen, wie die jüngsten Marktreaktionen zeigen. Auch wenn die Zweijahresfrist für die Verhandlungen eingehalten würde, wären öffentliche Androhungen und wiederholte Ultimaten Teil der beidseitigen Verhandlungsstrategie, was die Unsicherheiten für Unternehmen und Investoren über den Referendumstag hinaus erhöhen würde. Es ist auch unplausibel, dass die Neuverhandlungen Großbritannien im Hinblick auf Marktzugang und Freihandel in eine bessere Situation versetzen als sie jetzt gegeben ist. Daher dürften Bewertungsabschläge für Großbritannien nicht nur temporär sein.

Auch das britische Pfund ist angesichts der Brexit-Diskussion arg unter Druck. Wie weit könnte das Pfund noch fallen, falls die Briten sich aus der EU verabschieden?


Der nach einem Brexit-Votum zu erwartende Kapitalabfluss wird das Pfund merklich abwerten lassen. Angesichts des hohen außenwirtschaftlichen Defizits der britischen Wirtschaft kann im Falle von heftigen politischen Turbulenzen sogar das Risiko einer Währungskrise nicht ausgeschlossen werden.

Viele Beobachter sehen auch weitreichende politische Folgen. Hat die EU ohne Großbritannien dauerhaft überhaupt noch eine Zukunft oder steht die Europäische Union nun an einem Scheideweg?


Während der Verhandlungsphase würde die ‚britische Frage‘ viele politische Ressourcen in der EU binden - Ressourcen, die die Union derzeit dringend zur Lösung anderer Probleme benötigt. Denn das Brexit Risiko ist ja keineswegs die einzige Herausforderung, der sich die EU derzeit gegenüber sieht. Flüchtlingsfrage, die Zukunft der Währungsunion, Klimawandel, Bedrohungen von innen (Terror) und außen (Russland) oder auch die Vertiefung des Binnenmarktes zur Aufrechterhaltung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit - dies sind alles Themen die die Europäer unabhängig vom britischen Votum angehen müssen. Den meisten dieser Herausforderungen wäre die EU aber mit den traditionell liberal eingestellten und international sehr engagierten Briten besser gewachsen. Insofern wäre ein Brexit sehr zu bedauern. Aber zerbrechen wird die EU daran sicher nicht.

Auf Seite 5: Philipp Vorndran (Flossbach/von Storch): "Kräftige Kursschwankungen, attraktive Opportunitäten"





Philipp Vorndran (Flossbach/von Storch): "Kräftige Kursschwankungen, attraktive Opportunitäten"



Herr Vorndran, am 23. Juni stimmen die Briten über den Verbleib in der EU ab. Die Brexit-Fans gewinnen weiter an Zuspruch. Die Börsen reagieren zunehmend nervös. Ist das nur Theaterdonner oder wird es womöglich wirklich ernst?


Es wird auf jeden Fall eine sehr knappe Entscheidung werden - wer schlussendlich gewinnt, mag ich nicht vorherzusagen. In den Medien ist zu lesen, dass am Ende das Wetter entscheide. Ist es schön, würden die Brexit-Befürworter das Rennen machen, weil die jungen, überwiegend pro-europäischen Briten, sich lieber in den Pubs oder Parks aufhielten statt im Wahllokal. Das sagt viel über die Diskussion aus - niemand weiß, wie es ausgehen wird.

Welche wirtschaftlichen Folgen hätte ein Briten-Austritt denn für die britische Wirtschaft und die EU?

Die Nachteile eines Brexits überwögen die Vorteile. Es wäre naiv zu glauben, die EU würde die Briten bevorzugt behandeln, sollten sie sich entschließen, aus dem Club auszutreten. Der Zugang zum Binnenmarkt würde erschwert. Unter dem Strich dürften die politischen Auswirkungen aber deutlich schwerer wiegen als die ökonomischen, insbesondere für die Europäische Union.

Welche Folgen erwarten Sie für Deutschland?


Deutschland ginge ein verlässlicher Partner innerhalb der EU verloren - eine wichtige, marktwirtschaftliche Stimme. Die Südeuropäisierung der Union würde sich fortsetzen. Die Auswirkungen für die Unternehmen dagegen sind begrenzt. Niemand wird aufhören mit Großbritannien Handel zu treiben, nur weil es nicht mehr in der EU ist.

Ein Austritt eines Landes aus der EU müsste binnen zwei Jahren abgeschlossen sein. Ist das angesichts der engen Verflechtung realistisch oder droht eine lang anhaltende Phase der Unsicherheit?


Ob der Zeitplan realistisch ist, vermag ich nicht zu beurteilen. Ich würde aber vermuten, dass viele Institutionen auf einen Brexit schlicht nicht vorbereitet sind. Manche hoffen sogar darauf, dass es am Ende eine neues Referendum gibt - eines, das über den Exit aus dem Brexit abstimmt.

Was würde ein Brexit und eine womöglich lange Phase der Unsicherheit denn für die Börsen bedeuten? Rechnen Sie mit einem kurzen Rückschlag und einer Erholung wie wir es bei politisch einschneidenden Ereignissen schon häufig gesehen haben oder liegt der Fall dies Mal anders?


Womöglich ist ein Teil der Risiken bereits eingepreist. Wahrscheinlicher erscheint uns jedoch, dass es zu kräftigeren Kursschwankungen kommt. Da langfristig die politischen Auswirkungen größer sein dürften als die ökonomischen, könnten sich zeitweise attraktive Opportunitäten für Investoren ergeben.

Auch das britische Pfund ist angesichts der Brexit-Diskussion arg unter Druck. Wie weit könnte das Pfund noch fallen, falls die Briten sich aus der EU verabschieden?


Der Devisenmarkt dürfte besonders empfindlich auf einen Brexit reagieren, das Pfund nochmals unter Druck geraten. Wie weit die Währung abwertet, lässt sich nur schwer vorhersagen. Auch der Euro könnte leiden, denn die Angst vor den Zentrifugalkräften in der Eurozone wäre wieder da.

Viele Beobachter sehen auch weitreichende politische Folgen. Hat die EU ohne Großbritannien dauerhaft überhaupt noch eine Zukunft oder steht die Europäische Union nun an einem Scheideweg?


Die politische Bedeutung der EU würde schwinden, sollte ein Land wie Großbritannien ausscheren. Außerdem könnten die Briten als Vorbild für andere taugen. Eine Blaupause für Österreich, Finnland, die Niederlande oder einige osteuropäische Mitgliedstaaten beispielsweise. Es könnte der Anfang vom Ende der Europäischen Union in ihrer jetzigen Form sein. Die Frage, welchen Mehrwert die EU ihren Mitgliedern bietet, wurde in den vergangenen Jahrzehnten jedenfalls noch nie so häufig gestellt wie in diesen Tagen.