Nach Angaben des Kryptowährungsdaten-Anbieters CoinMarketCap ist der Bitcoin-Preis vom 14. April ausgehend von einem Rekordhoch von 64.863,10 Dollar bis zum 19. Mai bis auf 30,681,50 Dollar gefallen. Das entspricht einem Minus von 52,4 Prozent. Verluste in diesem Ausmaß, speziell in so kurzer Zeit, riechen nach Kapitulation. Gemeint ist damit eine Ausverkaufswelle, bei der auch die letzten Optimisten ihre Bestände entnervt auf den Markt geworfen haben.
Kommt es zu einer Kapitulation, ist das wiederum für antizyklisch agierende Anleger ein Kaufsignal. Denn nach einer echten Ausverkaufswelle gibt es keinen Bestandsüberhang mehr und das ist dann oft ein guter Nährboden für mittel- bis langfristig wieder steigende Notierungen. Es kann sich somit für jene Investoren sehr lohnen, die es schaffen, eine Kapitulation als eine solche richtig zu identifizieren.
Vor diesem Hintergrund beschäftigen sich auch bei den Kryptos viele Marktteilnehmer mit der Frage, ob wir in dem Segment nun eine Kapitulation gesehen haben oder nicht. Aus der Sicht von Mike Novogratz, der als CEO und Gründer des Krypto-Finanzdienstleisters Galaxy Digital einer der bekannteste Köpfe in dem Sektor ist, fühlt sich der jüngste Ausverkauf wie eine Kapitulation an. Er geht davon aus, dass die "Anleger bald aufstehen und den Schmutz abbürsten".
Wie er zu seinen Einschätzungen kommt, hat Novogratz im Gespräch mit dem US-Fernsehsender CNBC nicht verraten. Weil es aber wichtig ist, zu wissen, welche Instrumente dabei taugen, sich zur Kapitulations-Frage eine Meinung zu bilden, berichten wir, wie das die Analysten bei J.P. Morgan versuchen.
Anpassung der CME-Futures-Positionen noch relativ bescheiden
Das erste von der US-Bank verwendete Instrument ist der CME-Bitcoin-Futures-Positionierungs-Proxy (siehe Grafik). Um die Positionierung in Bitcoin-Futures abzuleiten, verwendet man die Open-Interest-Positions-Proxy-Methode, die man auch auf andere Futures-Kontrakte anwendet. Das heißt, man multipliziert die kumulativen wöchentlichen absoluten Änderungen des Open Interest mit dem Vorzeichen der wöchentlichen Futures-Preisänderung.
Der Grundgedanke hinter diesem Positionsproxy ist, dass bei einem Preisanstieg auch die Netto-Long-Position der spekulativen Investoren zunimmt, wobei das Ausmaß des Anstiegs durch die absolute Veränderung des Open Interest bestimmt wird. Es spielt keine Rolle, ob das offene Interesse steigt oder fällt, da die Netto-Long-Position entweder durch neue Longs (Anstieg des offenen Interesses) oder eine Reduzierung früherer Shorts (Reduzierung des offenen Interesses) steigen kann. Umgekehrt gilt das genauso. Bei einem Preisrückgang sinkt auch die Netto-Long-Position der spekulativen Anleger, wobei das Ausmaß des Rückgangs durch die absolute Veränderung des offenen Interesses bestimmt wird. Es spielt keine Rolle, ob das offene Interesse steigt oder fällt, da die Netto-Long-Position entweder durch neue Short-Positionen (Anstieg des offenen Interesses) oder durch die Reduzierung früherer Long-Positionen (Reduzierung des offenen Interesses) abnehmen kann.
Im aktuellen Fall deutet dieser Proxy auf eine weitere Auflösung von CME-Futures-Positionen in der Vorwoche hin, auch wenn sie vom Umfang her relativ bescheiden erscheinen. Die relativ bescheidene Anpassung der CME-Futures-Positionen trotz des Ausmaßes der Preisschwankungen in der Vorwoche könnte laut J.P. Morgan darauf zurückzuführen sein, dass ein Großteil der Auflösung an den Spotmärkten oder an weniger regulierten Börsen stattgefunden hat, wo die Marktteilnehmer oft Zugang zu größeren Hebeln haben.
Kurzfristige Momentum-Signale mit Verkaufssignalen
Wie J.P. Morgan erklärt, stammt ein Teil dieser Positionsreduzierung bei Futures zweifelsohne von Momentum-Händlern wie CTAs. Das Scheitern des Bitcoins an der Hürde von 60.000 Dollar habe dazu geführt, dass die Momentum-Signale mechanisch bärischer werden und weitere Positionsauflösungen induzierten. Dies sei wahrscheinlich ein wichtiger Marktfaktor in der Vorwoche gewesen, da die kurzfristigen Momentum-Signale zum Anfang der Vorwoche zum ersten Mal seit einem Jahr auf Short gedreht und sich am vergangenen Mittwoch den Tiefstständen vom März 2020 genähert hätten.
Trotz der jüngsten zwischenzeitlichen Kurserholung auf rund 40.000 Dollar seien die Momentum-Signale, insbesondere das mit der längeren Rückblickperiode, als Signal problematisch geblieben. Das liege daran, dass das Momentum-Signal der längeren Rückblickperiode, anders als im März 2020, noch nicht auf Verkaufen gedreht hat. Damit das längerfristige Signal negativ werde, sei ein Kursrückgang auf etwa 26.000 Dollar erforderlich. Die J.P. Morgan-Analysten glauben daher, dass es zu früh ist, das Ende des jüngsten Bitcoin-Abwärtstrends auszurufen.
Dieses Bild des Rückzugs der institutionellen Investoren setzte sich auch außerhalb der CME-Bitcoin-Futures fort. Börsennotierte Bitcoin-Fonds litten zuletzt weiterhin unter Abflüssen, in der fünften Woche in Folge (siehe nächste Grafik), die sich kumuliert auf knapp über 530 Millionen Dollar beliefen.
Stark verschlechterte Liquiditätsbedingungen
Schließlich dürften auch die Liquiditätsbedingungen die Preisbewegungen wahrscheinlich verschärft haben. Eine Möglichkeit, die Marktliquidität zu messen, ist laut J.P. Morgan die Betrachtung des Hui-Heubel-Verhältnisses aus der akademischen Literatur, das effektiv den Einfluss des Volumens auf die Preise (d. h. die Marktbreite) erfasst. Dieser Indikator basiert auf dem Verhältnis der Intraday-Preisänderungen geteilt durch den Umsatz.
Je niedriger dieses Liquiditätsverhältnis ist, desto höher ist die Anzahl der Trades hinter jeder prozentualen Preisänderung und somit die Marktbreite der Liquidität. Diese Kennzahl ist in der nächsten Grafik für CME-Futures auf Bitcoin, Gold und den S&P 500 dargestellt und zeigt eine starke Verschlechterung der Liquiditätsbedingungen in CME-Bitcoin-Futures, die wahrscheinlich das Ausmaß der Bitcoin-Preisschwankungen verstärkt hat.
Fazit: Die skizzierten Erkenntnisse bringen J.P. Morgan zu dem Schluss, dass das Ausmaß der Korrektur bei Bitcoin wahrscheinlich durch eine starke Verschlechterung der Liquiditätsbedingungen verstärkt wurde. Dies mache es schwer zu argumentieren, dass die bisherige Entwicklung eine Kapitulation darstelle. Dies wiederum bedeute, dass es ein erhebliches Risiko für ein weiteres De-Risking gebe, angesichts des anhaltenden Verfalls des hauseigenen Momentum-Signals über einen längeren Rückblickzeitraum und angesichts des Fehlens von Käufen im Bitcoin-Fonds-Bereich oder im regulierten (d. h. CME) Bitcoin-Futures-Bereich.