Ein ehemaliger US-Militärvertreter erklärte, Überlandverbindungen seien riskant, aber zurzeit die einzige Möglichkeit zur Flucht. Nach der Machtübernahme der radikal-islamischen Taliban Mitte August waren über 122.000 Personen ausgeflogen worden. Laut UN könnten bis Jahresende bis zu eine halbe Million Menschen fliehen.

"Ich höre in den Nachrichten und von Verwandten, dass Tausende an der afghanischen Grenze zu Pakistan warten", sagte ein Mann, der einen US-Pass besitzt und für das amerikanische Militär gearbeitet hat. Seine Versuche, mit seinen sechs Töchtern in eine der Evakuierungsmaschinen zu gelangen, blieben erfolglos, wie er der Nachrichtenagentur Reuters mit Hilfe eines Übersetzers sagte. Die US-Botschaft habe nur ihm, aber nicht seinen Kindern die Ausreise zusagen können. Seine Töchter seien keine US-Bürger, seine Frau sei im Juli an Corona gestorben. Hussain, der seinen Nachnamen aus Sicherheitsgründen nicht nennen wollte, erwägt eine Flucht nach Tadschikistan.

Das zentralasiatische Nachbarland hat die Aufnahme von 100.000 Flüchtlingen zugesagt. Wie aus dem Umfeld von privaten Evakuierungsmissionen verlautete, zieht es viele Afghanen auch nach Usbekistan. Das Land hat erklärt, Amerikanern und unter Umständen auch anderen Staatsangehörigen die Durchreise zu ermöglichen. Wie viele Menschen beide Ex-Sowjetrepubliken bereits ins Land gelassen haben, war zunächst unklar.

Pakistan, wo bereits Hunderttausende Flüchtlinge aus Afghanistan untergekommen sind, hat nach Informationen aus Diplomatenkreisen zuletzt 2000 Afghanen einmonatige Transit-Visa ausgestellt. Die Menschen hätten in Afghanistan für ausländische Institutionen gearbeitet und fürchteten nun Sanktionen der Taliban, so die Diplomaten.

BIDEN LOBTE IN TELEFONAT MIT GHANI AFGHANISTANS MILITÄR


Die Taliban hatten von 1996 bis zu ihrem Sturz durch die US-geführten Truppen 2001 Afghanistan beherrscht und aus Sicht des Westens Menschenrechte massiv beschnitten. An der Spitze eines Nato-Bündnisses intervenierten die USA kurz nach den Anschlägen vom 11. September 2001. Unter Ex-Präsident Donald Trump handelten sie dann mit den Taliban den Abzug aus. Die Islamisten brachten das Land rasch wieder unter ihre Kontrolle.

Am 15. August war der afghanische Präsident Aschraf Ghani aus seinen Präsidentenpalast geflohen, ohne dass seine Armee nennenswert Widerstand geleistet hätte. In seinem letzten Telefonat mit Ghani vor der Taliban-Machtübernahme hatte US-Präsident Joe Biden die Armee seines Verbündeten noch gelobt. In dem Gespräch zeigte sich keiner der beiden Männer der Gefahr bewusst, dass die Islamisten innerhalb von Tagen faktisch die Macht in Afghanistan übernehmen würden.

Zur gegenwärtigen Lage sagte ein US-Vertreter, der zuvor Amerikanern und von den Taliban bedrohten Afghanen auf dem Weg zum Flughafen Kabul und dort in Evakuierungsflugzeuge geholfen hatte: "Das Land ist praktisch eingemauert". Auch der Weg an die Grenze birgt große Risiken, zumal die Taliban laut US-Militärkreisen weitere Kontrollpunkte auf den Hauptstraßen nach Usbekistan und Tadschikistan errichtet haben. Die Islamisten verbieten Frauen, ohne männliche Begleitung zu reisen.

Auch innerhalb des Landes mehren sich die Anzeichen dafür, dass die Taliban trotz anderslautender Zusicherungen die Rechte von Frauen weiter massiv missachten. Als sich am Dienstag vor den Banken in Kabul lange Schlangen bildeten, hätten Taliban-Kämpfer mit Stöcken auf Frauen eingeschlagen, berichtete eine 22-Jährige. "Es ist das erste Mal, dass sich so etwas gesehen habe, es hat mir große Angst gemacht."

rtr