Mehr Leistungen und niedrige Zinsen treiben die Beiträge der privaten Pflege(zusatz)versicherung teils massiv nach oben. Was Betroffene in diesem Fall tun können. Von Ulrich Lohrer
Die 80-jährige Rentnerin Karin S. ist geschockt über die Beitragserhöhung ihrer Pflegezusatzversicherung. "Von dieser wurde ich vor die Alternative gestellt, entweder 86 Prozent Beitragserhöhung zu akzeptieren oder meinen Versicherungsschutz und meine seit Jahren eingezahlten Altersrückstellungen zu verlieren. Kann ich meine Beiträge zurückfordern, wenn ich die Änderung nicht akzeptiere?"
Auf die Anfrage der Versicherten gibt die Verbraucherberatung eine ernüchternde Antwort. "Bei einer Kündigung der Pflegezusatzversicherung erhalten die Versicherten die eingezahlten Beiträge nicht zurück. Von einer vorschnellen Kündigung raten wir ab, da die Zusatzversicherung als Ergänzung zur staatlichen Grundversorgung notwendig sein kann", meint Susanne Gelbmann, Versicherungsberaterin beim VerbraucherService Bayern im Katholischen Deutschen Frauenbund e. V. (VSB) und Leiterin der Beratungsstelle Ingolstadt.
Plus 110 Prozent - geht das einfach so?
Beitragserhöhungen von 60 bis 110 Prozent in der privaten Pflegezusatzversicherung sind aktuell keine Seltenheit. Im Tätigkeitsbericht 2019 des Ombudsmanns Private Kranken- und Pflegeversicherung - dem Streitschlichter zwischen Versicherern und Versicherten - wird dem Thema sogar ein eigenes Kapitel gewidmet. Auf die Beitragserhöhungen in der privaten Pflegepflichtversicherung bezogen sich immerhin 33 Prozent aller eingereichten Schlichtungsanträge an den Ombudsmann in dieser Sparte, Heinz Lanfermann. Pflegeversicherte wandten sich an ihn, weil "sie die Beitragsanpassung, insbesondere in dieser Höhe, nicht nachvollziehen konnten". Andere Versicherte teilten mit, dass ihr Beitrag innerhalb kurzer Zeit erneut deutlich erhöht wurde, weshalb sie sich sorgten, ob sie sich ihre Police in Zukunft noch leisten könnten.
In den Anfragen erkundigten sich die Betroffenen bei dem Ombudsmann nach der Wirksamkeit und den Hintergründen für die Beitragserhöhungen. Außer den Anfragen zur privaten Pflegepflichtversicherung gab es zudem zahlreiche Anträge an den Ombudsmann, die private Zusatzversicherungen betrafen, zu denen auch die ergänzende Pflegezusatzversicherung zählt. Diese Policen werden häufig auch von Mitgliedern der gesetzlichen Pflegepflichtversicherung abgeschlossen, da diese oft nur einen Teil der möglichen Pflegekosten übernimmt.
Weil der verbleibende Eigenanteil die laufenden Alterseinkünfte oder das Ersparte übersteigen kann, schließen viele Menschen diese ergänzenden Policen ab, um später Forderungen der Pflegeheime beziehungsweise der Kommunen in ihrer Funktion als Träger der Sozialhilfe an die Angehörigen zu vermeiden. Dafür bietet die Assekuranz drei verschiedene Versicherungsarten an: die Pflegetagegeldversicherung - dazu zählt auch die staatlich geförderte Pflegezusatzversicherung ("Pflege-Bahr") -, die Pflegekostenversicherung und die Pflegerentenversicherung. Pflegetagegeld- und Pflegerentenversicherung zahlen im Pflegefall monatlich einen vorher vereinbarten Betrag an den Versicherten aus, während die Pflegekostenversicherung die tatsächlich entstandenen Kosten erstattet. Aufgrund der vergleichsweise niedrigen Beiträge ist die Pflegetagegeldversicherung die am häufigsten abgeschlossene Variante.
Zu den Marktführern nach Beitragseinnahmen bei der ergänzenden Pflegezusatzversicherung zählen nach einer Auswertung der Geschäftsberichte durch BÖRSE ONLINE die zum Versicherungskonzern Ergo Group gehörende DKV Deutsche Krankenversicherung, die Allianz Private Krankenversicherung (APKV), die Versicherungskammer Bayern (UKV, BBKK) sowie die AXA.
Bafin soll Erhöhungen prüfen
Laut Wolfgang Schuldzinski, dem Vorstand der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen, seien von hohen Beitragserhöhungen der ergänzenden Pflegezusatzversicherungen vor allem Versicherte der Union Krankenversicherung (UKV) und der Bayerischen Beamtenkrankenkasse (BBKK) sowie DKV und Central betroffen. "Es ist ein Skandal, dass die Menschen jahrelang die Prämien gezahlt haben und nun, kurz bevor es auf den Versicherungsschutz ankommt, auf einmal Steigerungen der Beiträge von bis zu 110 Prozent akzeptieren sollen", kritisierte Schuldzinski in der "Welt am Sonntag". Weil für die Betroffenen eine Prüfung der Beitragserhöhung nur über den Gerichtsweg möglich sei, fordert Schuldzinski die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin) auf, "diese enormen Beitragssprünge stellvertretend für alle Versicherten vorab ausreichend unter die Lupe zu nehmen".
Mehr Pflegeleistungen kosten mehr Geld
Der Bericht des Ombudsmanns liefert eine Erklärung für die hohen Beitragserhöhungen der privaten Pflegeversicherungen. Erforderlich seien diese aufgrund der vom Gesetzgeber verabschiedeten Pflegestärkungsgesetze gewesen, mit denen die "größte Pflegereform aller Zeiten" eingeleitet worden war. Schließlich seien dadurch auch die Versicherten der gesetzlichen Pflegepflichtversicherung mit Beitragserhöhungen belastet worden. So stieg zum 1. Januar 2019 der Beitragssatz für Kinderlose in der sozialen Pflegeversicherung von 2,55 Prozent auf 3,05 Prozent. Gleichzeitig wurden die Höchstbeträge auf 138 Euro und 149 Euro angepasst. Bei einem monatlichen Bruttogehalt von 3000 Euro stieg der Beitrag von 76,50 Euro (2,55 Prozent) im Jahr 2018 auf 91,50 Euro (3,05 Prozent) im Jahr 2019.
Für viele privat Versicherte löst allerdings die Leistungsausweitung einen weiteren Beitragserhöhungseffekt aus - verursacht durch die Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank. Weichen die Leistungsausgaben um mehr als fünf Prozent von der ursprünglichen Kalkulation ab, dürfen die privaten Pflegeversicherer auch den sogenannten Rechnungszins bestehender Policen auf das aktuelle Niveau senken. Mit dem Rechnungszins werden die Alterungsrückstellungen verzinst, die aus den Beiträgen für künftige Pflegeausgaben gebildet werden.
Wird nun dieser Zins rückwirkend für bestehende Verträge gesenkt - was bislang noch nie der Fall war -, müssen die Altversicherten die unzureichenden Alterungsrückstellungen durch höhere Beiträge ausgleichen. "Die überdurchschnittliche Erhöhung der Beiträge findet sich vor allem bei lange bestehenden Pflegezusatzversicherungen, die in der Kalkulation noch einen Rechnungszins von drei Prozent hinterlegt haben.
"Weil die Versicherer deshalb den Rechnungszins zum Teil um mehr als einen Prozentpunkt absenken müssen, entstehen die drastischen Erhöhungen der monatlichen Versicherungsbeiträge, die den gesamten Tarif betreffen", erläutert Versicherungsberaterin Gelbmann vom VSB. Besonders betroffen sind oft ältere Menschen wie die Rentnerin Karin S., die vor langer Zeit eine Police abgeschlossen haben. Sofern die Beitragserhöhung formal korrekt erhoben wurde, bleiben den Betroffenen dann nicht viele Möglichkeiten. "Um die Beitragssteigerungen zu reduzieren, kann ein Tarifwechsel infrage kommen. Laut dem Versicherungsvertragsgesetz haben Versicherungsnehmer einen Rechtsanspruch, beim eigenen Versicherer ohne erneute Gesundheitsprüfung in einen anderen gleichwertigen Tarif zu wechseln", sagt Gelbmann.
Die Versicherer bieten allerdings unterschiedlich viele Tarife an. Stehen nur ein oder zwei zur Auswahl, sind auch die Wechselmöglichkeiten und das Einsparpotenzial beschränkt. Andere Versicherer bieten mehrere gleichartige Tarife an, weshalb sich ein Wechsel unter Anrechnung der gebildeten Alterungsrückstellungen dann eher lohnen kann. "Es besteht zudem auch die Möglichkeit, den Leistungsumfang der Pflegetagegeldversicherung zu reduzieren, um den Beitrag stabil zu halten", so Gelbmann.
Widerspruchsrecht bei Erhöhungen
Die Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen weist obendrein darauf hin, dass regelmäßig vom Versicherer vorgesehene Erhöhungen des Pflegetagegelds gestoppt werden können. Diese Dynamisierungen können den Beitrag auch für junge Versicherte über lange Laufzeiten enorm erhöhen, da sich der Beitrag auch nach dem erreichten Alter richtet. Die Assekuranz informiert die Versicherten, die ein Widerspruchsrecht genießen, über jede bevorstehende Dynamisierung. Nicht jeder Versicherte kennt sein Widerspruchsrecht oder nimmt es bewusst wahr. Erst wenn der Erhöhung mehrfach hintereinander widersprochen wird, erlischt das Recht auf weitere Leistungserhöhungen.
Generell empfiehlt sich, vor Abschluss einer Zusatzpolice eine Versicherungsberatung aufzusuchen, die eine individuelle Bedarfsanalyse vornimmt. Dabei werden das mögliche Pflegerisiko, die bereits bestehenden sozialen und ergänzenden privaten Versicherungen sowie das Einkommen geprüft. Womöglich stellt sich dabei heraus, dass eine ergänzende Pflegezusatzversicherung gar nicht notwendig ist, sondern nur Geld kostet.
Was die Pflegeversicherung leistet
Am 22. April 1995 beschloss die schwarz-gelbe Bundestagsmehrheit unter Kanzler Helmut Kohl die soziale Pflegepflichtversicherung (SPV). Seither hat sich ihr Beitragssatz - 1997 noch ein Prozent - mehr als verdreifacht. Aktuell liegt er für gesetzlich versicherte Angestellte mit Kind(ern) bei 3,05 Prozent und für Kinderlose bei 3,3 Prozent ihres beitragspflichtigen Einkommens. Gesetzlich Krankenversicherte sind in der Regel in der sozialen Pflegeversicherung und privat Krankenversicherte in der privaten Pflegepflichtversicherung versichert. Für Letztere wird der Beitrag individuell nach Alter und dem Gesundheitszustand zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses kalkuliert. Die Leistungen (siehe Tabelle) richten sich nach dem Grad der Pflegebedürftigkeit und dem Ort der Pflege (zu Hause oder im Pflegeheim).
Durch die Pflegestärkungsgesetze wurde der Leistungsumfang erweitert. So wurden ein neues Begutachtungsverfahren und ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff eingeführt. Auch erhalten an Demenz Erkrankte nun die gleichen Leistungen wie körperlich Kranke.
Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) ermittelt für gesetzlich Versicherte, die Medicproof für privat Versicherte den Pflegegrad. Dieser richtet sich nach sechs Kriterien, wobei das Kriterium "Selbstversorgung" mit 40 Prozent und das Kriterium "Bewältigung krankheitsbedingter Anforderungen" mit 20 Prozent am stärksten gewichtet werden. Trotz der Leistungserweiterung müssen die Betroffenen oft einen erheblichen Eigenanteil der Pflegekosten selbst tragen. Am teuersten ist die stationäre Unterbringung im Pflegeheim. Aktuell müssen Pflegebedürftige laut PKV-Verband in einer stationären Pflegeeinrichtung im Schnitt über 1800 Euro Eigenbeteiligung im Monat tragen. Der Eigenanteil ist in den Bundesländern Nordrhein-Westfalen (2350 Euro), Saarland (2205 Euro) und Baden-Württemberg (2149 Euro) im Durchschnitt am höchsten. Mit ergänzenden Pflegezusatzversicherungen können die Kosten zumindest teilweise abgesichert werden.