Sind die Börsen einfach nur cool oder übertrieben sorglos?
· Börse Online RedaktionGelassenheit - neudeutsch Coolness - gilt seit jeher als Tugend. Schaut man sich die Aktienmärkte der vergangenen ein, zwei Jahre an, so scheinen sie eine immense innere Ruhe auszustrahlen. Ist dies nun ein Zeichen von Reife oder von übertriebener Sorglosigkeit? Um dies zu beantworten, lohnt sich zunächst ein Blick auf die von den US-Ökonomen Scott Baker, Nick Bloom und Steven Davis entwickelten "Indizes politischer Unsicherheit". Deren globaler Index lag zwischen 1997 und 2008 im Schnitt bei 83 Punkten, seit Ausbruch der Finanzkrise allerdings bei rund 140 Punkten. Anfang 2017 verzeichnete er ein historisches Hoch von über 300 Punkten. In Großbritannien unterlag die politische Unsicherheit nach dem Brexit-Votum im Übrigen besonders starken Schwankungen: Ein sich bereits auf hohem Niveau befindlicher britischer Unsicherheitsindex schnellte Mitte 2016 innerhalb von zwei Monaten über 700 Punkte nach oben.
In einem zweiten Schritt gilt es, den Einfluss politischer Schocks auf die Aktienmärkte zu analysieren. Das Bindeglied hierzu ist das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV). Investoren reagieren sensibel auf Unsicherheit, die erwarteten Gewinne eines Unternehmens werden mit einer höheren Risikoprämie versehen. Die Folge ist ein niedrigeres KGV, eine geringere Unternehmensbewertung also. Die tatsächlichen Gewinne der Unternehmen hingegen werden - anders als die Bewertung - nur bei einer entsprechend tiefen und langen politischen Krise beeinträchtigt. Politische Ereignisse allein reichen daher in der Regel nicht aus, um den Konjunkturzyklus eines Landes zu beeinflussen. Vielmehr müssen hierfür hohe strukturelle Unsicherheiten bestehen. Eine KGV-Analyse für die jüngsten 20 Jahre zeigt, dass der Anstieg der politischen Unsicherheit spürbar negative Auswirkungen hatte. Mit jedem Anstieg des Global-Policy-Uncertainty-Index um 100 Punkte fiel das Forward-KGV des MSCI-World-Index um 2,6 Punkte. 2016 reagierten die Märkte jedoch ganz anders als im Schnitt der vergangenen 20 Jahre. Sowohl im Zusammenhang mit der Brexit-Entscheidung als auch im Umfeld des Wahlsiegs Donald Trumps stieg der Global-Policy-Uncertainty-Index jeweils um rund 130 Punkte. Die KGVs jedoch stiegen - bezogen auf den MSCI-World-Index - leicht an.
Für diese erstaunliche Reaktion gibt es zwei mögliche - und zum Teil zusammenhängende - Erklärungen. Erstens: Sorglosigkeit der Finanzmärkte. Nach einem kurzen Schock scheint sich die Erkenntnis durchgesetzt zu haben, dass weder Brexit noch Präsident Trump unmittelbare und ausschließlich negative Folgen haben. Hinzu kommt, dass Anleger mit dem Sieg Trumps die Aussicht auf Steuersenkungen, Deregulierung und die Repatriierung von im Ausland geparkten Liquiditätsreserven der US-Unternehmen einzupreisen begannen. Zweitens: die Markt- und Wachstumsdynamik. Die Finanzmärkte befanden sich im Sommer und Herbst 2016 in einer Aufwärtsphase, berauscht von einem Cocktail aus sich verbessernden Makrodaten, steigenden Unternehmensgewinnen und einer ultralockeren Geldpolitik.
Stimmen diese Erklärungen, dann deutet vieles darauf hin, dass die Märkte ihre Nonchalance gegenüber Brexit und Präsident Trump bald überdenken könnten. Dass die Brexit-Verhandlungen nicht einfach werden, hat sich bereits gezeigt. Gleichzeitig hat Trump zuhause mit hartnäckigem bis zunehmendem politischen Widerstand zu kämpfen. Außerdem endet derweil der Gleichlauf positiver globaler Konjunkturdaten, wobei sich die Dynamik abschwächt und regionale Unterschiede hervortreten. Zudem stimmen die großen Zentralbanken darin überein, dass ihre Volkswirtschaften künftig eine etwas geringere monetäre Stimulierung verkraften können. Höhere Zinsen aber haben in der Vergangenheit fast immer für eine Abkühlung überhitzter Märkte gesorgt. Vorsicht daher bei Weisheiten wie: "Politische Börsen haben kurze Beine." Derzeit lässt der Realitätscheck der Märkte wohl lediglich ungewöhnlich lange auf sich warten.
Stefan Rondorf: Der studierte Betriebswirt, Diplom-Kaufmann und Chartered Financial Analyst (CFA) startete seine Karriere 2006 bei Allianz Global Investors, wo er unter anderem als Portfoliomanager für Mischfonds für institutionelle und private Anleger arbeitete. Seit 2011 ist Rondorf Seniorkapitalmarktstratege im Team Global Economics & Strategy. Allianz Global Investors ist weltweit einer der führenden aktiven Investmentmanager.