So manchem Investmentbanker und Fondsmanager dürfte der Bissen im Hals steckengeblieben sein: Zur besten Mittagszeit in Mitteleuropa ließen das Mainzer Biotechunternehmen Biontech und sein Partner, der US-Pharmakonzern Pfizer, die Bombe platzen: Laut einer Zwischenanalyse der finalen Wirksamkeitsstudie kann der von Biontech entwickelte Impfstoff über 90 Prozent der Covid-19-Infektionen verhindern. Das Ergebnis übertrifft alle Erwartungen - und löste an den von der Abwahl Donald Trumps ohnehin schon euphorisierten Märkten eine veritable Rally aus.
Der MSCI World Index sprang auf ein Rekordhoch, DAX und Euro Stoxx stiegen innerhalb von Minuten nach der Nachricht um 6,5 beziehungsweise 7,4 Prozent. In den USA eröffnete der Dow Jones am Nachmittag 5,7 Prozent höher bei 29.929 Punkten und damit so hoch wie nie. Der breiter gefasste S & P 500 gewann 3,7 Prozent.
"Ich denke, wir können jetzt Licht am Ende des Tunnels sehen", drückte Pfizer-Chef Albert Bourla in einem US-Fernsehinterview das vorherrschende Gefühl bei den Marktteilnehmern aus. Bourla und Biontech-CEO Ugur Sahin hatten sich stets sehr optimistisch zu den Chancen ihres Impfstoffkandidaten geäußert. Erst vor drei Wochen erklärte Biontech-Finanzvorstand Sierk Poetting im €uro-am-Sonntag-Interview, bereits im Februar ein gutes Gefühl bezüglich der Impfstoffentwicklung gehabt zu haben. Weil die verwendete mRNA-Technologie jedoch noch nie bei einem zugelassenen Medikament zum Einsatz gekommen ist, galt das Projekt als extrem riskant. "Niemand ist über dieses Ergebnis mehr erleichtert als ich", erklärte Bourla, der die gesamte Entwicklung und die bereits begonnene Produktion komplett auf Pfizers eigenes Risiko durchgezogen hat.
Unter den knapp 40.000 Studienteilnehmern, die bisher zwei Impfstoffdosen beziehungsweise zwei Placebo-Injektionen bekommen haben, sind bis zum vergangenen Wochenende insgesamt 94 Corona-Infektionen nachgewiesen worden. Der deutlich überwiegende Anteil dieser Fälle trat in der Placebo-Gruppe auf. Somit vermindert der Impfstoff das Risiko, an Covid-19 zu erkranken, um mehr als 90 Prozent. Diese Zahl kann sich noch ändern, je länger die Studie läuft. Mehr Daten wurden nicht veröffentlicht, die Untersuchung an insgesamt über 43.500 Freiwilligen wird im Detail analysiert, wenn insgesamt 164 Corona-Fälle aufgetreten sind. Das dürfte bis Ende des Jahres eintreten.
Zulassungsantrag nächste Woche
Sobald für mindestens die Hälfte der Geimpften eine Nachbeobachtungszeit von zwei Monaten nach der letzten Dosis abgelaufen ist, wollen die Entwicklungspartner in den USA einen Antrag auf eine Notfallzulassung stellen. Das könnte schon kommende Woche der Fall sein, wenn in dem Zeitraum keine ernsthaften Nebenwirkungen auftreten. In Europa haben die Unternehmen bereits mit einem rollierenden Zulassungsverfahren begonnen, bei dem Daten eingereicht und begutachtet werden, sobald sie verfügbar sind. Verläuft alles nach Plan, könnten noch vor Jahresende die ersten Impfstoffdosen ausgeliefert werden. Rund 50 Millionen sind dann weltweit verfügbar, im kommenden Jahr wollen die beiden Firmen bis zu 1,3 Milliarden Einheiten produzieren. Die EU, Japan, die USA und Großbritannien haben sich vertraglich bereits insgesamt 450 Millionen Dosen gesichert, mit Optionen auf die Abnahme von weiteren 600 Millionen.
Für Biontech sind die vorläufigen Wirksamkeitsdaten ein riesiger Erfolg. Zum ersten Mal überhaupt konnte damit in einer groß angelegten Studie gezeigt werden, dass sich mit der mRNA- Technologie ein sicherer, wirksamer Impfstoff herstellen lässt. Das erhöht auch die Erfolgswahrscheinlichkeit für andere Forschungsprojekte der Mainzer. Ein großer Teil von Biontechs Pipeline basiert auf dieser Technologie. Sie nutzt synthetisch produzierte Erbgut-Schnipsel ("Boten-RNA"), um den Körper dazu zu bringen, das eigentliche Medikament beziehungsweise den Impfstoff anhand des in der mRNA codierten Bauplans selbst herzustellen. Als großer Vorteil von mRNA gilt die im Vergleich zu anderen Wirkstoffen erheblich unkompliziertere und damit schnellere Produktion. Nach Bekanntgabe der Nachricht schnellte der Aktienkurs zunächst um knapp 30 Prozent in die Höhe, schloss dann am Montag in Deutschland mit einem Plus von etwa 14 Prozent.
Mit der voraussichtlichen Zulassung des Covid-Impfstoffs tritt das Unternehmen in eine neue Phase ein. Dann muss Biontech beweisen, dass die Firma nicht nur exzellente Wissenschaftler beschäftigt, sondern auch Medikamente produzieren, vertreiben und erfolgreich verkaufen kann. Manche Investoren bevorzugen die Forschungsfantasie gegenüber diesem Alltagsgeschäft und steigen an so einem Zeitpunkt aus.
Wie viel Biontech an einem Impfstoff verdienen wird, ist noch unklar. Die Analystenschätzungen gehen weit auseinander. Geoffrey Porges, Analyst bei der Investmentbank SVB Leerink, rechnet mit 4,6 Milliarden Dollar Umsatz im kommenden Jahr und 2,8 Milliarden jährlich in den Folgejahren. Das japanische Geldhaus Mizuho prognostiziert dagegen sogar über 8,5 Milliarden Dollar Umsatz bis Ende 2021. Pfizer und Biontech teilen den weltweiten Gewinn außerhalb Chinas 50 zu 50 auf. Allerdings muss Biontech auch die Hälfte der auflaufenden Kosten tragen, die im Moment zum Teil von Pfizer vorgestreckt werden. Auf jeden Fall ist Biontech kein "One-trick-pony", das über Corona hinaus wenig zu bieten hat: Langfristig bleiben die Aktien aufgrund der zahlreichen Medikamentenkandidaten gegen Krebserkrankungen aussichtsreich.
Schub für alle Impfstoffhersteller
Auch für andere Impfstoffhersteller, allen voran die mit der gleichen Technologie arbeitenden Firmen Moderna und Curevac, sind die Biontech/Pfizer-Daten ein sehr gutes Zeichen. Wenngleich die 90-prozentige Effektivität die Hürde für alle Nachrücker auch ziemlich hoch liegt. Allerdings war vorher strenggenommen nicht einmal klar, ob es überhaupt gelingen würde, einen wirksamen Impfstoff gegen Covid-19 herzustellen. "Wir glauben, dass diese Zwischenergebnisse auch die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass andere Impfstoffkandidaten Erfolg haben, die ebenfalls auf das Spike-Protein des Virus abzielen", sagt Richard Hatchett, Chef der internationalen Impfstoffkoalition CEPI. Das trifft auf nahezu alle anderen Entwicklungsprojekte zu.
Damit wächst die Aussicht auf eine Rückkehr zum normalen Leben im kommenden Jahr. "Ein wirksamer und nebenwirkungsarmer Impfstoff ändert alles", sagt Gabriel Felbermayr, Präsident des Instituts für Weltwirtschaft. Die Hoffnung auf eine Normalisierung in allen Bereichen beflügelte entsprechend die Kurse.
Zykliker sind die großen Gewinner
Die Gewinner der Impfstoff-Rally sind erwartungsgemäß die großen Verlierer der Pandemie: Die Luftfahrt, der Reisesektor, Veranstalter. In diesen Bereichen ist das Geschäft in diesem Jahr nahezu zum Stillstand gekommen - jetzt wächst die Hoffnung auf einen Neustart. Kräftig nach oben ging es auch bei Versicherungskonzernen, bei denen sich die Rechnungen für Corona-Schäden türmen. Oder bei der Modefirma Hugo Boss, deren Anzüge Geschäftsleute im Homeoffice nicht brauchen.
Auf der Verliererseite stehen die Pandemie-Gewinner: Essenslieferdienste wie Hellofresh, Onlinehändler wie die Shop Apotheke oder auch die Diagnostikfirma Qiagen, zu deren Portfolio auch Corona-Tests gehören. All diese Firmen haben in diesem Jahr von Sondereffekten profitiert.
Auch wenn die Kursbewegungen am Montag extrem waren, bestätigen sie einen Trend, der schon seit einigen Wochen an den Aktienmärkten zu beobachten ist: raus aus defensiven Werten, rein in die Zykliker!
Viele Börsianer haben einen Durchbruch bei der Impfstoffentwicklung bereits einkalkuliert. Mindestens ein zugelassener Impfstoff bis Jahresende lautete beispielsweise das Basisszenario bei Goldman Sachs. Die gute Nachricht jetzt von Pfizer und Biontech bestärkt lediglich diese Annahme, reduziert aber das Restrisiko und rechtfertigt damit höhere Aktienkurse.
Für die Wirtschaft ist der Schmerz allerdings noch nicht vorüber: "Die guten Nachrichten von der Impffront sind auch gute Nachrichten für die Konjunktur. Aber das ändert nichts an der zweiten Corona-Welle und dem erneuten Lockdown, der wohl auch den Großteil des Dezembers betreffen wird", warnt Jörg Krämer, der Chefvolkswirt der Commerzbank. Die Möglichkeit weiterer Corona-Wellen stelle auch in der ersten Hälfte nächsten Jahres ein beträchtliches Risiko für die Wirtschaft dar.
Ähnlich sieht es Christian Kahler, Chef-Aktienstratege der DZ Bank: "Lufthansa, Touristikunternehmen und Co werden 2020 keinen Euro mehr Umsatz machen, nur weil der Impfstoff einige Zeit früher kommt. Im Gegenteil: Viele der Unternehmen werden auch weiterhin um das finanzielle Überleben kämpfen müssen."
Auch Unternehmen bremsen die Euphorie: Die aktuelle Verschlimmerung der Pandemie erfordere "erneut unsere Geduld und Unterstützung", so Adidas-Chef Kasper Rorsted. In Europa seien rund 40 Prozent der Adidas-Läden schon wieder geschlossen. Der Reisekonzern TUI verhandelt nach Informationen von Reuters sogar über weitere Finanzhilfen des Staates. TUI erklärte, man ziehe "nach den erneuten erheblichen Beschränkungen und Reise-Restriktionen natürlich alle Optionen der Finanzierung für die nächsten Monate und den Winter in Erwägung".
Schwere Schäden
Vergleicht man das Kursniveau der Verlierer mit dem Vorkrisenniveau, bleibt noch immer viel Fantasie: Die Aktie der Lufthansa beispielsweise schoss zu Wochenbeginn von knapp 7,50 auf in der Spitze knapp zehn Euro in die Höhe, stand Anfang des Jahres aber bei 16 Euro. Seitdem ist allerdings nicht nur die Aktie unter Druck geraten: Das Unternehmen hat schwere Schäden erlitten. Nach neun Monaten steht ein Nettoverlust von 5,6 Milliarden Euro in der Bilanz. Um die Krise zu überleben, braucht Lufthansa die Hilfe des Staates, der jetzt mit 20 Prozent Großaktionär ist. Lufthansa sollte die Pandemie überleben, wird aber deutlich geschwächt aus ihr hervorgehen.
Den entgegengesetzten Effekt gibt es bei Pandemie-Gewinnern, deren Aktien jetzt unter Druck sind. Shop Apotheke etwa hat die Zahl ihrer aktiven Kunden um 1,4 Millionen auf 5,9 Millionen gesteigert und damit jetzt eine viel größere Basis als vor der Krise.
Die aus Sicht eines Investors entscheidende Frage ist, bei welchen Titeln die Kurse mit dem jüngsten Kurssprung über ein vernünftiges Niveau hinweggeschossen sind. Die Investmentbank Morgan Stanley kalkuliert beispielsweise, dass sich bei den Aktien europäischer Fluggesellschaften die Bewertung durch die massiven Kursaufschläge in dieser Woche bereits wieder stark an den historischen Mittelwert angenähert hat.
Viele Strategen sehen für die Aktienmärkte in den kommenden Wochen eine Fortsetzung des größeren Trends: eine Rotation in zyklische Branchen und damit jene Unternehmen, die von einer Konjunkturbelebung im neuen Jahr deutlich profitieren sollten.
Die französische Bank BNP Paribas geht davon aus, dass Finanzwerte und Energie zu den Gewinnern zählen. Die Europa-Strategen von Goldman Sachs sehen Potenzial auch bei Aktien aus den Bereichen Auto, Rohstoffe und Bau. Die Aussichten für den Techsektor seien dagegen "Neutral".
Ein starkes Comeback erlebt derweil der DAX. Die Probleme des Index in der Vergangenheit - wenig Techis, viele Zykliker - sind im aktuellen Umfeld zu einem Vorteil geworden. Carsten Klude von der Privatbank M.M. Warburg sieht die Chance, dass der DAX noch in diesem Jahr sein im Februar aufgestelltes Rekordhoch von knapp 13.800 Punkten erreichen könnte.
INVESTOR-INFO
Biontech
Riesenschub nach vorn
Klappt es mit der Covid-Zulassung, wird das Unternehmen spätestens 2021 satte Gewinne einfahren. Die guten Impfstoffdaten stimmen auch für andere mRNA-Projekte von Biontech optimistisch. Der Aktienkurs hat deshalb noch Steigerungspotenzial.
Curevac
Nachzügler mit Chancen
Ein Vorteil für die Tübinger ist die niedrige Dosierung ihres Vakzins. Damit könnten auch sie im Milliarden-Maßstab produzieren. Frühe Daten waren gut. Skeptisch macht die Häufigkeit von Nebenwirkungen. Abseits von Covid ist Curevac weniger breit aufgestellt als Biontech oder Moderna. Für risikoaffine Anleger.
Moderna
Vor der Entscheidung
Vorläufige Ergebnisse zur Wirksamkeit des Impfstoffs der US-Firma Moderna werden in den nächsten Tagen erwartet. Angesichts der Vorlage von Biontech ist das Enttäuschungspotenzial groß. Kann Moderna mithalten, winken auch hier weitere Kursgewinne.
Novavax
Der Joker
In frühen Studien lieferte Novavax’ Impfstoff bisher die besten Ergebnisse. Er basiert nicht auf mRNA, sondern der bewährten Protein-Subunit-Technologie, was die Akzeptanz steigern dürfte. Zudem ist er bei zwei bis acht Grad lager- und transportfähig. Ergebnisse werden Anfang 2021 erwartet. Spekulativ.
Industrie
Neustart nach der Krise
Daimler dürfte trotz Pandemie das Jahr mit einem operativen Gewinn von mehr als vier Milliarden Euro beenden. Vor allem China erweist sich als wichtige Stütze des Autokonzerns. Auch Kostensenkungen werden bei einer breiteren Geschäftserholung nach Corona helfen. HeidelbergCement wäre einer der Profiteure von staatlichen Investitionen in die Infrastruktur. Auch beim Baustoffhersteller setzen Analysten auf eine kräftigen Gewinnanstieg im neuen Jahr.
Finanzen
Bessere Zeiten
Eine Konjunkturerholung und staatliche Infrastrukturprogramme dürften die Zinsen zumindest leicht heben. Das sollte dem zyklischen Bankensektor und damit auch der Commerzbank helfen. Der Rückversicherer Munich Re hat durch die Corona-Krise hohe Schäden, etwa durch den Ausfall von Veranstaltungen, zu verkraften. Die Aussicht auf ein Ende der Pandemie wird den Blick wieder auf die Qualitäten des Rückversicherers lenken: eine seit 1969 nicht gesenkte Dividende.
Tourismus
Ab in den Urlaub
Ryanair-Chef Michael O’Leary erwartet eine "Invasion" von Urlaubern in den Mittelmeerländern, sobald ein Impfstoff verabreicht ist. Der irische Billigflieger hat in der Viruskrise gelitten, dürfte aber in Relation zur Konkurrenz gestärkt daraus hervorgehen. Der US-Reisevermittler Booking Holdings, zu dem Portale wie Priceline und Kayak gehören, wird laut Analystenschätzungen trotz Pandemie einen Jahresgewinn erzielen und wäre ebenfalls ein klarer Gewinner, sobald sich das Reisegeschäft normalisiert.