LUXEMBURG/KARLSRUHE (dpa-AFX) - Siebeneinhalb Jahre nach Auffliegen des VW
Was bisher geschah:
Eigentlich sind viele Fragen zu den Ansprüchen betroffener Autofahrer längst höchstrichterlich geklärt. Dem Grundsatz-Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) aus dem Mai 2020 folgten zahlreiche Entscheidungen aus Karlsruhe zu allen möglichen Einzelaspekten.
Dreh- und Angelpunkt ist immer die Annahme, dass Diesel-Kläger dann Anspruch auf Schadenersatz haben, wenn sie vom Hersteller der Autos bewusst und gewollt auf sittenwidrige Weise getäuscht wurden.
Diese Voraussetzungen sieht der BGH bisher allein beim VW-Skandalmotor EA189 erfüllt. Denn hier wurde eine Betrugssoftware so programmiert, dass die Autos in Behördentests weniger giftige Abgase ausstießen als tatsächlich im Straßenverkehr. Betroffene konnten ihr Auto zurückgeben, mussten sich aber auf den Kaufpreis die Nutzung anrechnen lassen. Wer zu viel gefahren ist, geht leer aus.
Worum es jetzt geht:
In vielen weiteren Diesel-Autos auch anderer Hersteller funktioniert die Abgasreinigung ebenfalls nicht durchgängig gleich gut. Auf Diesel-Klagen spezialisierte Anwaltskanzleien sind der Ansicht, dass auch diese Funktionalitäten unzulässige Abschalteinrichtungen sind.
Ein Beispiel ist das sogenannte Thermofenster: Ein Teil der Abgase wird eigentlich direkt wieder im Motor verbrannt. Je nach Außentemperatur wird dieser Mechanismus allerdings automatisch gedrosselt - um den Motor zu schützen, wie die Hersteller sagen. Kritiker werfen ihnen vor, auch hier darauf geschaut zu haben, dass die Autos die Grenzwerte vor allem unter Test-Bedingungen einhalten.
Nach den BGH-Kriterien gibt es deshalb keinen Schadenersatz. Denn hier wird auf dem Prüfstand kein Schummel-Modus aktiviert, die Technik funktioniert immer gleich. Die Karlsruher Richter haben deshalb schon mehrere Thermofenster-Klagen gegen Daimler abgewiesen.
Ein Richter am Landgericht Ravensburg hält das für falsch und hat am BGH vorbei den EuGH eingeschaltet. Die Luxemburger Richter sehen das Thermofenster sehr kritisch. Im Juli 2022 haben sie geurteilt, dass es unzulässig wäre, unter normalen Bedingungen die meiste Zeit des Jahres die Abgasreinigung zu drosseln. Jetzt geht es um die Haftung.
Warum das Urteil mit so viel Spannung erwartet wird:
Der zuständige Generalanwalt des EuGH hat den Standpunkt vertreten, dass jemand, der ein Auto mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung kauft, einen Ersatzanspruch gegen den Hersteller hat. Sollte der Gerichtshof diesen Vorschlag übernehmen, würde das die Hürden für Schadenersatz-Forderungen in Deutschland deutlich senken. Betrugsabsichten müssten dann nicht mehr nachgewiesen werden.
Die Schlussanträge des Generalanwalts haben deshalb Anfang Juni 2022 einige Aufregung ausgelöst. Gerichte aller Instanzen haben Diesel-Verfahren auf Eis gelegt, bei denen es auf die Frage ankommt. Allein beim BGH sind im Moment mehr als 1900 Revisionen und Nichtzulassungsbeschwerden anhängig, die deutliche Mehrzahl wurde wegen des erwarteten EuGH-Urteils erst einmal zurückgestellt.
Das Luxemburger Verfahren betrifft ein Thermofenster von Mercedes-Benz
Was voraussichtlich erst einmal offen bleiben dürfte:
Der EuGH spricht keine abschließenden Urteile. Seine Entscheidungen müssen im jeweiligen nationalen Recht umgesetzt werden. Der "Dieselsenat" des BGH hat für den 8. Mai bereits eine Verhandlung terminiert, in der er die sich "möglicherweise ergebenden Folgerungen für das deutsche Haftungsrecht" erörtern will, um den unteren Instanzen möglichst schnell Leitlinien an die Hand zu geben. Hier geht es um einen VW-Motor, unter anderem mit einem Thermofenster.
Eine wichtige Frage wäre vermutlich, wie viel Geld betroffenen Autokäufern zusteht - ist der Schadenersatz bei Fahrlässigkeit genauso zu bemessen wie bei vorsätzlichem Betrug? Auch davon dürfte es abhängen, ob auf die Autobauer eine neue Klagewelle zurollt./sem/rew/DP/zb
Quelle: dpa-Afx