Die 15 Experten des US-Instituts ICER, das Kosten-Nutzen-Analysen für den amerikanischen Gesundheitssektor erstellt, waren sich so einig wie selten: Auf die Frage, ob das kürzlich zugelassene Alzheimer-Medikament Aduhelm einen Nutzen über die Standardtherapie hinaus biete, antworteten alle 15 mit "Nein".

Das ist insofern ein niederschmetterndes Urteil, da die Standardtherapie nur Symptome der Demenzerkrankung mildern kann. Hersteller Biogen behauptet jedoch, dass Aduhelm den Fortschritt von Alzheimer bremst - und begründet damit auch den exorbitanten Preis von 56.000 Dollar pro Patient und Jahr. ICER findet dagegen, das Medikament sei maximal 8.400 Dollar wert.

Seit der kontroversen Zulassungsentscheidung für Aduhelm durch die US-Behörde FDA vergeht kaum ein Tag, ohne dass die Geschichte eine neue überraschende Wendung nimmt. Um herauszufinden, ob bei dem Verfahren alles mit richtigen Dingen zuging, sind inzwischen mehrere Untersuchungsverfahren angelaufen.

Über Nacht zum Milliarden-Seller

Gleichzeitig fühlt sich der Teil der Biotechbranche, der Alzheimer und andere neurodegenerative Erkrankungen erforscht, wie im Goldrausch. Denn die Grundlage, auf der die FDA Aduhelm zugelassen hat, scheint auch anderen Unternehmen eine Perspektive auf deutlich erleichterte Zulassungsbedingungen zu bieten. Gleichzeitig hat sich das Image von Alzheimer-Forschungsprojekten von sicheren Geldvernichtungsmaschinen zu potenziellen Milliarden- Bestsellern gedreht.

Pharmakonzerne, die ein Stück vom Kuchen abbekommen wollen, suchen daher gerade die Branche nach Kooperationspartnern ab. "Alle Firmen, die in dem Bereich tätig sind, haben mächtig Rückenwind bekommen", sagt Lukas Leu, Healthcare-Analyst im Managementteam des Fonds BB Adamant Biotech. Für kleinere Firmen mit entsprechenden Projekten können bei Kooperationen mit großen Konzernen viele Millionen herausspringen.

Dreh- und Angelpunkt ist, dass die FDA ihre Zulassung nicht auf eine klinisch messbare Verbesserung oder Verlangsamung des Krankheitsverlaufs gründete. So einen Effekt konnte Biogen nämlich nicht stichhaltig nachweisen. Die Zulassung bezieht sich darauf, dass Aduhelm Amyloid-Plaques (siehe Glossar) aus dem Gehirn entfernt. Das sei ein Hinweis darauf, dass das Medikament auch gegen den kognitiven Verfall wirke, erklärte die FDA - obwohl dieser Zusammenhang bislang nicht bewiesen ist. Diverse Wirkstoffkandidaten haben in den vergangenen Jahren die Ablagerungen im Gehirn reduziert, Patienten aber keine Besserung gebracht.

Wettbewerber in den Startlöchern

Natürlich spart es enorm viel Zeit und Kosten, wenn "nur" Plaque-Entfernung nachgewiesen werden muss und kein statistisch signifikantes Ergebnis aus psychiatrischen Tests an Zehntausenden Patienten über viele Jahre. Der Pharmariese Eli Lilly will deshalb nun seinen - Aduhelm ähnlichen - Amyloid-Antikörper Donanemab bis Ende des Jahres zur Zulassung einreichen. Auch bei Roche und der japanischen Eisai wittern Investoren Morgenluft. "Experten sagen, dass diese Antikörper bei der Plaque-Entfernung mindestens genauso gut, wenn nicht besser als Aduhelm sind", berichtet Lukas Leu. Roches Gantenerumab, das ursprünglich aus dem Labor der Münchner Morphosys stammt, könnte theoretisch schon Ende 2022 auf den Markt kommen. Bei Morphosys würde bei einem Erfolg von Roche wenig hängen bleiben: Die Firma hat gerade 60 Prozent der potenziellen Lizenzeinnahmen aus der Kooperation an Royalty Pharma verkauft.

Das Monopol von Biogen könnte also relativ bald fallen, Wettbewerb und Druck vonseiten der Kostenträger die Preise drücken. Marktbeobachter halten das aber nicht für schlechte Nachrichten: Denn je günstiger die Medikamente, desto eher würden staatliche und private Versicherer sich wohl bereit erklären, die Kosten zu übernehmen. Angesichts von insgesamt rund sechs Millionen Alzheimer-Patienten in den USA und 500.000 neuen Diagnosen pro Jahr haben sich bereits mehrere private US-Krankenkassen in den vergangenen Tagen geweigert, Aduhelm zu bezahlen. Die staatliche Medicare, der durch Biogens Preisvorstellungen eine Kostenexplosion bevorsteht, will in den kommenden neun Monaten erst einmal die Vorteile der Therapie analysieren lassen.

Insgesamt deutet das darauf hin, dass es nicht über Nacht Multimilliarden-Einnahmen für Biogen allein geben wird, dafür aber längerfristig ein riesiger Markt mit Platz für viele Medikamentenhersteller entsteht. Profitieren dürften davon auch Anbieter von Produkten und Dienstleistungen rund um Diagnose, Verabreichung und Patientenüberwachung (siehe Investor-Info).

Die attraktivsten Titel für risikobereite Anleger sind daher Unternehmen, die vergleichsweise kurzfristig ein Produkt aus der Beta-Amyloid-Schiene auf den Markt bringen könnten. Sie könnten in nächster Zeit erfolgreich Geld einwerben, Kooperationspartner ans Land ziehen oder gleich übernommen werden. Dazu zählt unter anderem Vivoryon aus Halle (früher Probiodrug). Deren Produktkandidat blockiert ein Enzym, das bei der Entstehung einer toxischen Amyloid-beta-Variante eine Rolle spielt. Ebenfalls in diese Kategorie fällt die Schweizer AC Immune, die sowohl gegen Amyloid als auch gegen Tau (siehe Glossar) gerichtete Moleküle entwickelt. Auch die amerikanische Acumen hat einen Antikörper im frühen Teststadium, der bestimmte Amyloid-Formen entfernen soll.

Innovative Alternativen

Wer sich längerfristig engagieren will, könnte Wirkstoffentwickler abseits der umstrittenen Amyloid-Hypothese ins Auge fassen. Diese Titel sind zweifellos noch riskanter, da es zu alternativen Strategien gegen Alzheimer bisher nur wenig Daten gibt. Auf der anderen Seite könnte hier auch ein Produkt dabei sein, das tatsächlich größere klinische Effekte zeigt, als es bisher bei den Amyloid-Antikörpern der Fall war.

Besonders interessant sind die beiden amerikanischen Biotechunternehmen Alector und Denali Therapeutics. Sie beschäftigen sich zum einen mit dem Protein Progranulin, dem eine Rolle bei Entzündungsprozessen im Gehirn zugeschrieben wird und dessen Spiegel bei vielen Demenzkranken reduziert ist. Zum anderen versuchen die Firmen, Immunzellen im Gehirn positiv zu beeinflussen. Sehr spekulativ ist die Wette auf den Erfolg von Biohavens Alzheimer-Kandidat: Der überzeugte zwar in der jüngsten Studie nicht, doch die noch laufende Analyse könnte neue Ansatzpunkte ergeben.
 


INVESTOR-INFO

Die Amyloid-Player

Endlich auf der Zielgeraden

Biogen (ISIN: US 090 62X 103 7) wird trotz eventueller Abstriche bei Preis und Patientenzielgruppe klar von Aduhelm profitieren. Als Nächstes könnten die Pharmariesen Lilly (US 532 457 108 3) und Roche (CH 001 203 204 8) auf den Markt drängen. Beides sind empfehlenswerte Titel für vorsichtige Anleger. Dagegen sind die Aktien der drei möglichen Profiteure AC Immune, Acumen und Vivoryon deutlich spekulativere Investments.

Die Pioniere

Neue Mechanismen nutzen

Langfristig braucht es mehr und andere Strategien, um Demenz zu bekämpfen. Diese drei Firmen arbeiten daran, Alector sogar schon in Phase 3. Denali verfügt über eine sehr interessante Technologie, um Wirkstoffe durch die Blut-Hirn-Schranke zu schleusen. Biohaven schwimmt gerade wegen eines neuen Migränemittels auf der Erfolgswelle, das Alzheimer-Produkt ist jedoch ein Wackelkandidat.

Die Trittbrettfahrer

Markt für Tests und Infusionen

Wenn Alzheimer-Patienten nun mit Aduhelm und zukünftig weiteren Medikamenten behandelt werden, profitieren davon auch Anbieter von Diagnoseverfahren und Infusionskliniken. Cardinal Health liefert beispielsweise die radioaktiven Flüssigkeiten für PET-Scans, mit denen sich Plaques im Gehirn abbilden lassen, PerkinElmer Diagnostiktests. Option Care Health betreibt Infusionspraxen.

 


Glossar:

Amyloid-beta, Beta-Amyloid, Abeta: Ein Protein, das im Körper von Gesunden ständig gebildet und abgebaut wird. Seine genaue Funktion ist unklar. Bei bestimmten Strukturveränderungen verklumpen die Beta-Amyloid-Proteine und lagern sich im Gehirn (Plaques) und in Hirn-Blutgefäßen ab. Die Plaques sind ein typisches Kennzeichen für Alzheimer- Demenz. Doch ob sie deren Ursache darstellen oder nur eine Begleiterscheinung sind, ist bis heute strittig.

Tau: Weitere Proteinfamilie, die im Zentralnervensystem vorkommt und krankhafte Ablagerungen bilden kann. Medikamentenkandidaten, die Tau als Angriffspunkt haben, stützen sich ebenfalls auf die Hypothese, dass Proteinrückstände die Ursache von Alzheimer sind.