Der Mann weiß sich durchzubeißen. Schon mit 14 Jahren erlebte Carsten Schneider die Umbruchzeit nach der Wende in Erfurt auf sich allein gestellt, weil Mutter und Stiefvater in den Westen gingen. Kurz zuvor war er, der jugendliche Radsportler, von der DDR an eine der berüchtigten Kinder- und Jugendsportschulen delegiert worden. Sein Leben bestand aus "Schule und Training, Training und Schule".

Die Wende rettete ihn vor weiterer Schinderei. Doch mit Selbstdisziplin biss er sich durchs Bildungssystem, erkämpfte sich das Abitur. Statt Jura zu studieren, entschied er sich für eine Ausbildung als Bankkaufmann, die er 1997 abschloss. Politisiert haben ihn 1992 die brennenden Asylbewerberheime in Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda. Die davor jubelnden Rechtsradikalen und die vielen passiven Zuschauer sind sein Schlüsselerlebnis. Er wacht politisch auf, engagiert sich bei Antifa-Demos und geht schließlich zu den Jungsozialisten.

Während seines Zivildiensts in einer Erfurter Jugendherberge wird Schneider von der SPD mit einer Stimme Mehrheit im Alter von 22 Jahren als Direktkandidat für den Deutschen Bundestag nominiert. Er gewinnt 1998 überraschend klar den Wahlkreis Erfurt und landet als jüngster Abgeordneter der damaligen Legislaturperiode in Bonn.

Sein Entree im Parlament ist wieder ungewöhnlich. Er erhält als Jungspund einen Platz im Haushaltsausschuss, obwohl man sich in den großen Fraktionen dafür gewöhnlich erst jahrelang anstellen muss. Dort macht er sich still, aber zielstrebig mit seiner ruhigen und kompetenten Art einen Namen. In seiner dritten Amtsperiode wird er haushaltspolitischer Sprecher. Der Mann mit dem Kurzhaarschnitt und der kantigen Brille gewinnt immer mehr Profil als solider Haushälter, der Budgetdisziplin einfordert, auf das Einhalten der Schuldenbremse drängt und in der Eurokrise auch die Eigenverantwortung der Schuldnerstaaten anmahnt.

€uro am Sonntag: Fast Ihr ­halbes Leben lang sind Sie jetzt ­Mitglied des Bundestags - seit 1998. Dabei sind Sie gerade mal 43 Jahre alt. Verändert eine solche be­rufs­politische Biografie, die mit 22 Jahren begann, den Mann?

Carsten Schneider:

Ja natürlich, nicht in der Grundstruktur, aber von den Lebensumständen. Es ist ein komplett anderer Erfahrungshorizont, den ich als Abgeordneter gewinnen konnte, als wenn ich Bankkaufmann in Erfurt geblieben wäre. Wenn man jung in so ein Amt kommt, kann man seine Grunddisposition verlieren, wenn man nicht gefestigt ist. Ich bin aber geerdet. Dieser Beruf bietet die unglaubliche Chance, privates politisches Interesse und die Erwerbsarbeit mit­einander zu verknüpfen. So viele hervorragende Gesprächspartner, die einen jeden Tag ein bisschen schlauer machen und weiterbringen, finden sich in kaum einem anderen Beruf. Das hat mich natürlich geprägt. Trotzdem habe ich meine fundamentale Grunddisposition, meinen Wertekanon, was ich für richtig und falsch halte, nicht verloren. Davon bin ich überzeugt.

Sie sind im Haushaltsausschuss gestartet, haben sich später als haushaltspolitischer Sprecher einen Namen gemacht, weil Sie hörbar für solide Staatsbudgets gestritten haben. In den vergangenen Jahren haben Union und SPD gemeinsam vor allem die sozialstaatlichen Leistungen hochgefahren. Demografische Entwicklung und steigende Lohnstückkosten wurden ausgeblendet. Wie bewertet das ein solider SPD-Haushälter angesichts rückläufiger Konjunktur und schon am kurzen Horizont aufscheinender Budgetdefiziten?

Wir haben die gesamtstaatliche Verschuldung in den letzten Jahren von mehr als 80 auf jetzt unter 60 Prozent reduziert. Es gab keine Neuverschuldung mehr. Natürlich haben uns da vor allem die niedrigen Zinsen, der positive Arbeitsmarkt und die wachsenden Steuereinnahmen geholfen. Die größten Fehler werden normalerweise immer im Aufschwung gemacht. Die haben wir aber, bis auf wenige Ausnahmen, vermieden. Natürlich kann man sich über das Baukindergeld, die Wiederauflage der alten Eigenheimzulage, die die Große Koalition 2005 aus guten Gründen abgeschafft hatte, streiten. Aber das Projekt ist ja befristet, sodass man es nach einer Evaluation - ob es das Ziel, zusätzlichen Wohnraum zu schaffen, erreicht hat - neu bewerten kann. Grundsätzlich halte ich aber die ­Sozialleistungsquote nicht für das größte deutsche Problem.

Was dann?

Wir leiden vor allem an einem ex­tremen Arbeitskräftemangel, nicht nur bei qualifizierten Fachkräften. Das ist die eigentliche Wachstumsbremse.

Da war aber die Rente mit 63, von der SPD in der letzten Amtsperiode durchgesetzt. 1,1 Millionen Arbeitnehmer, überwiegend Fachkräfte mit hoher Erfahrung, haben sie bisher genutzt - sehr zum Leidwesen ihrer Betriebe, die sie gern behalten hätten und keinen Ersatz auf dem leergefegten Arbeitsmarkt finden.

Das war eine zeitlich befristete Entscheidung, die bald ausläuft. Außerdem muss man sehen, dass es sich bei diesen Arbeitnehmern um Leute handelt, die 45 Arbeitsjahre auf dem Buckel und für dieses Land schon einiges geleistet haben. Nichtsdestotrotz liegt ein weiteres Kernproblem unseres Landes bei der mangelnden Infrastruktur. Ich meine da nicht nur Straßen oder den Schienenverkehr, auch Kitas und Schulen. Deutschland ist so attraktiv, dass wir eine hohe Zuwanderung haben - und zwar aus der EU.

Wie sehen Sie diesen Trend?

Das ist absolut zu begrüßen. Die Menschen kommen als Arbeitskräfte zu uns, wollen auch bleiben, ziehen ihre Familien nach. Ich finde das großartig. In Erfurt hat Zalando ein großes Verteilzentrum. Die Hälfte der dortigen Arbeitnehmer kommt nicht aus Deutschland, sondern ein Großteil aus Polen. Doch jetzt fehlen Wohnungen, Kindergärten, Schulen. Deshalb steht für mich nicht mehr die Staatsverschuldung im Fokus der Politik, sondern ob wir zügig genügend investieren. Doch mit dem Tempo hapert es. Wir haben zu wenig Planungskapazitäten beim Staat, bei Bahn und Kommunen. Der Personalabbau der Vergangenheit fordert seinen Tribut.

In der aktuellen Baukonjunktur treibt eine zusätzliche Staatsnachfrage aber vor allem den Preis. Sie bekommen durch diese prozyklische Investitionspolitik doch immer weniger für immer mehr Geld.

Da will ich nicht grundsätzlich widersprechen. Man wartet heute selbst bei kleineren Vorhaben viele Monate auf Handwerker. Bei Ausschreibungen erntet selbst die öffentliche Hand nur wenige und oft sündhaft überteuerte Abwehrangebote. Deshalb plädiere ich für mittelfristig verlässliche Investitionsquoten des staatlichen Sektors, damit sich auch die Unternehmen mit ihren Kapazitäten darauf einstellen können. Den Kapazitätsengpass sehe ich übrigens nicht nur im Bausektor. Auch in der Gastronomie werden die Öffnungszeiten reduziert, weil schlicht kein Personal zu finden ist, vor allem für Wochenend- und Spätschichtzeiten.

Für den Arbeitsmarkt braucht Deutschland Zuwanderung. Doch über den Asylweg gelangen in der Regel nicht die gesuchten Fachkräfte ins Land. Ihr Arbeitsminister hat jetzt eine Erhöhung des Taschengelds für Asylbewerber angemahnt. Ist das die richtige Antwort, die auch SPD-Wähler verstehen?

Wir brauchen gesteuerte Zuwanderung. Ich trenne das Asylrecht und das Zuwanderungsgesetz, das wir jetzt schnell in Gesetzesform gießen müssen.

Doch bisher war das Asylrecht ein Umgehungspfad, der eher zur Einwanderung in die Sozialsysteme führte.

Gerade deshalb brauchen wir klare Regeln. Wer unberechtigt bei uns Asyl sucht, muss auch schnell wieder ausreisen. Nicht nur fehlende Fachkräfte bremsen unsere wirtschaftlichen Möglichkeiten, es fehlen auch in vielen Bereichen einfach Arbeitskräfte. Wir müssen deshalb jetzt zügig das Fachkräfteeinwanderungsgesetz im Bundestag beraten.

Immer mehr, vor allem auch junge Migranten landen im Hartz-IV-Bezug, während die Zahlen der Inländer sinken. Was halten Sie von der Abschaffung der Sanktionen für Leistungsbezieher, die es an der nötigen Eigeninitiative fehlen lassen, oder gar von einem bedingungs­losen Grundeinkommen?

Ich bin sehr dafür, dass wir ein Arbeitslosengeld II als Grundsicherung haben, für das die Grundprinzipien des "Fördern und Fordern" uneingeschränkt gelten - auch mit Sanktionen. Wer vertretbare Arbeitsplatzangebote bewusst ausschlägt, muss auch weiterhin mit Leistungskürzungen rechnen. Das bedingungslose Grundeinkommen halte ich für dekadent, weil es ein Schlaraffenland vorgaukelt, in dem es sich ohne Arbeit leben lässt.

Scheitert die Berliner Koalition nach den Wahlen im Herbst in den drei ostdeutschen Bundesländern?

Solange wir das, was wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben, auch gemeinsam umsetzen, wird es diese Koalition geben. Auch unabhängig von Wahlergebnissen. Die SPD hat lange mit sich gerungen, bis sie in diese Koalition eingetreten ist. Wir haben Ja gesagt und sind deshalb daran interessiert, sie bis zur regulären Wahl 2021 auch fortzuführen.

Vita:

Der Koordinator

Carsten Schneider wurde 1976 in Erfurt geboren. Nach dem Abitur absolvierte er eine Ausbildung zum Bankkaufmann, leistete dann Zivildienst. Nach der Bundestagswahl 1998 wurde Schneider mit erst 22 Jahren in den Bundestag gewählt. Seit dem 27. September 2017 ist er Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion und damit zuständig für Grundsatzfragen der Geschäftsführung sowie für die Koordinierung der parlamentarischen Abläufe mit der Bundesregierung, Partei, Landesregierung und den Landtagsfraktionen.