Ich bin der letzte Stucky aus Venedig und wünsche, dass dieser angesehene Name nach meinem Tod nur noch auf dem Friedhof von San Michele zu lesen ist, auf dem meine Eltern ruhen, die ich über alles geliebt habe." Der letzte Wille, den Giancarlo Stucky vier Jahre vor seinem Tod 1941 formulierte, ist nicht in Erfüllung gegangen: Weithin sichtbar prangt der Name G. Stucky nach wie vor auf dem größten Gebäude Venedigs und erinnert damit an eine Unternehmerkarriere, die Giancarlos Vater Giovanni zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum reichsten Venezianer machte.

Angefangen hatte der Aufstieg der Stuckys mit der Auswanderung von Giovannis Vater Hans Stucky aus Münsingen im Schweizer Kanton Bern. 1829 machte er sich zu Fuß auf den Weg, um sich in verschiedenen Getreidemühlen rund um die Alpen in dem Handwerk weiterzubilden. Ab 1837 lebte der Eidgenosse permanent in Italien, wo er auch heiratete und schließlich bei dem Bayern Friedrich Oexle in dessen Getreidemühle in Venedig anheuerte. Oexle hatte 1840 auf der Insel Giudecca gegenüber dem Markusplatz auf den Ruinen eines Klosters eine der ersten Dampfmühlen Europas errichtet und Stucky als engsten Mitarbeiter gewonnen. Doch Oexle selbst war mehr Techniker als Unternehmer und musste bald darauf sein Unternehmen an venezianische Gläubiger abtreten.

Der 1843 in der Lagunenstadt geborene Giovanni Stucky aber war mit der Begeisterung für neue Technik groß geworden. Mit 13 Jahren verließ er die Schule und machte sich wie einst sein Vater auf den Weg durch Europas Mühlenbranche. Dieser führte ihn über Frankreich, Deutschland, Österreich bis nach Budapest. Der Schweizer Abraham Ganz hatte in der Donaustadt als Mechaniker in einer Dampfmühle angefangen und war dann schnell mit einer eigenen Eisengießerei zum Großindustriellen aufgestiegen. Wiederum ein Bayer, András Marchwart, war es, der bei Ganz ein revolutionäres Mahlsystem aus Hartschalengusswalzen entwickelt hatte.

Mit dem Know-how aus Ungarn im Gepäck kehrt Giovanni wieder nach Italien zurück und pachtet im Veneto eine Mühle, die er nach dem ungarischen Prinzip modernisiert. Die Geschäfte laufen gut, er kauft Ländereien für den Weizenanbau dazu, baut eine Nudelfabrik in Treviso. Marchwarts Prinzip erlaubt es, Hartweizenmehl für Pasta und feines Weichweizenmehl für Brot viel effizienter als bisher herzustellen. Schließlich hat Stucky das Kapital, um Oexles ehemalige Mühle in Venedig zu kaufen. Die einstige Handelsmetropole ist ideal für eine solche Mühle, denn der Transport über Wasser ist billiger als über Land. Doch das reicht Stucky nicht: Er will eine Großmühle bauen, die auch die großen Getreidemengen verarbeiten kann, die Stucky inzwischen selbst in Russland oder Ägypten einkauft.

Am Westende der Giudecca kauft Giovanni Stucky das Gelände eines ehemaligen Konvents, auch er lässt Kloster und Kirche abreißen. 1884 nimmt dort die "molina a cilindri", die modernste Anlage ihrer Zeit mit einer Kapazität von 50 Tonnen täglich, die Produktion auf. Drei Jahre später sind es 200 Tonnen. Nun braucht der in Italien längst als Cavaliere (Ritter) geehrte Stucky etwas, was die Bedeutung seines Imperiums sichtbar ausdrückt. Vom hannoverschen Architekten Ernst Wullekopf lässt er im Stil der deutschen Backsteingotik einen neun Stockwerke hohen Bau mit Turm und Giebeln entwerfen. Die Baukommission der Stadt aber lehnt das Projekt ab, "es steht in Dissonanz mit dem Charakter aller venezianischen Fabriken und würde an diesem Ort der Stadt einen unguten Eindruck hervorrufen".

Doch weil der bedeutende Steuerzahler mit Schweizer Staatsbürgerschaft mit Wegzug droht, dulden die Stadtväter den Backsteinblock des Mehlmoguls schließlich. 1903 baut Stucky nebenan eine Pastafabrik und weitere Lagersilos. Italiens Zeitungen nennen zur Einweihung des größten Mühlenkomplexes des Kontinents diesen nun "die schönste Mühle Italiens".

Auch privat setzt Stucky auf pompöse Immobilien. So hat er für sich und seine Gattin, die Österreicherin Antonietta von Kupferschein, den Palazzo Foscari gekauft und aufwendig renoviert. Dieser ist das erste Gebäude Venedigs mit elektrischem Licht, und auch der Industriepalast strahlt bald mit Strom hell hinüber in Venedigs Herz. 1908 übergibt Giovanni die Verantwortung für die Produktion an seinen Sohn Giancarlo, der Vater bleibt der große Chef. Zudem entdeckt der seine Liebe zur Kunst, kauft den berühmten Palazzo Grassi am Canal Grande, fördert Künstler und die Stadt. Den Bauern auf dem Festland lässt er moderne Häuser bauen, zahlt ihnen gute Preise für ihr Getreide.

Der 67-jährige Giovanni Stucky ist am Zenit seines Wirkens, als der blonde Hüne am frühen Abend des 21. Mai 1910 die Stufen zu Venedigs Bahnhof hinaufschreitet, um zu seiner Villa auf dem Festland zu fahren. Da stürzt hinter einer Säule der 35-jährige Giovanni Bruniera hervor und geht Stucky mit einem Rasiermesser an die Gurgel. Der Schnitt ist tödlich, durchtrennt Kehlkopf und Halsschlagader. Stucky kennt seinen Mörder, er hat einst in seiner Mühle gearbeitet und ist fünf Jahre vor dem Anschlag zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt worden, weil er den Patron und dessen Familie bedroht hatte. Bruniera wird für geistesgestört erklärt und landet im Zuchthaus. Stucky wird unter großer Anteilnahme von Arbeitern, Bauern, Industriellen und Politikern auf der Toteninsel San Michele beigesetzt.

Unter Sohn Giancarlo hat die Mühle vor dem Ersten Weltkrieg ihre beste Zeit. Drei Hektar nimmt der Komplex ein, 1500 Arbeiter produzieren täglich bis zu 500 Tonnen Mehl und 30 Tonnen Pasta. Doch nach dem Krieg wird ausgerechnet auf Betreiben von Stuckys Geschäftspartner Vittorio Cini, der den Faschisten nahesteht, der Industrie- und Handelshafen Marghera am Festland gebaut, nun ist die Mühle zu groß und schlecht gelegen. 1933 eröffnet Diktator Mussolini zudem den Straßendamm zum Festland. Giancarlo, immer noch Schweizer, muss den Betrieb unter dem Druck der Faschisten in eine Aktiengesellschaft umwandeln, die Mehrheit übernimmt Mussolini-Förderer Cini. Die Stuckys aber verlieren alles, müssen in eine kleine Mietwohnung ziehen. Schließlich nimmt sich Giancarlo das Leben.

Cini stellte 1955 den Betrieb der Molina ein, die Anlage verfiel über Jahrzehnte hinweg. 1998 begann die Sanierung des Gebäudes, erst 2007 wurde das Hotel Hilton Molino Stucky dort eröffnet. Und an Giovanni Stucky erinnern die goldenen Lettern am Giebel.