J. R. D. Tata war Lebemann und Luftfahrtpionier und ein halbes Jahrhundert lang Indiensführender Unternehmer. Er gründete Air India, Tata Motors und den IT-Giganten TCS. Von Michael Braun Alexander
Es ist Leidenschaft auf den ersten Blick. Am 25. Juli 1909 steht ein Junge kurz vor seinem fünften Geburtstag am Sandstrand Nordfrankreichs und starrt in den Himmel. Dort geschieht ein Wunder, für alle sichtbar: Der Fortschritt röhrt, die Moderne! Hoch über Hardelot, einer Sommerfrische bei Boulogne, knattert der tollkühne Louis Blériot in seiner fliegenden Kiste durch die Lüfte: der erste Pilot der Geschichte, der den Ärmelkanal überfliegt und hinterher ein Interview in ganzen Sätzen geben kann. Der damals 37-jährige Blériot, in dem Küstenort Besitzer einer Ferienvilla samt Flugzeughangar, ist ein Held seiner Epoche. Außerdem ist er Nachbar von Jehangir und seiner Familie, den aus Mumbai stammenden Tatas. "Von diesem Augenblick an war ich hoffnungslos süchtig nach Flugzeugen", sagte der Jeh gerufene Bursche später. "Ich beschloss, eines Tages, komme was wolle, Pilot zu werden."
Gesagt, getan. Dieser Junge, mit vollständigem Namen Jehangir Ratanji Dadabhoy (J. R. D.) Tata und damals noch - bis in die 1920er-Jahre - französischer Staatsbürger, wird bald einer der coolsten Haudegen und Unternehmenspioniere des 20. Jahrhunderts sein. Wobei es hilft, dass er aus gutem, reichem Hause stammt. Jeh ist Neffe zweiten Grades von Jamshedji Tata, dem Begründer der indischen Industrialisierung, die in den 1860er-Jahren mit einem Baumwoll- und Textilboom in Mumbai begann. Auch sein Vater, R. D. Tata, ist eine der führenden Figuren des rasch expandierenden Unternehmensgeflechts. Man hat Vermögen. Kultur. Eine kosmopolitische Denke. In zweiter Ehe heiratet R. D. Tata die deutlich jüngere Französin Suzanne Brière, Madame Tata.
Die Muttersprache von J. R. D. Tata ist Französisch, daneben parliert er vor allem Englisch, während sein Hindi, die Hauptsprache Indiens, lebenslang ruckelig bleibt. Dafür kann er Draufgängertum. Schon mit Anfang zwanzig brettert er im offenen Bugatti in zweieinhalb Stunden über die 200 Schotterpistenkilometer von Mumbai nach Pune, was noch heute, trotz modern asphaltierter Mehrspurautobahn, eine reife Leistung ist.
Seine Ausbildung ist weltläufig, zur Schule geht es in Paris und Mumbai. Mit der Familie besucht er London und Japan, absolviert pflichtgemäß den Militärdienst in der französischen Armee. Mitte der 1920er-Jahre besteigt er schließlich als Azubi den Zug in Mumbais Hauptbahnhof Victoria Terminus und fährt in 32 Stunden ins damalige Tatanagar. Noch heute ist diese Millionenstadt, inzwischen als Jamshedpur auf der Landkarte, das Zentrum der Stahlindustrie Indiens.
Jehs Leidenschaft für Technik und Maschinen bricht sich wenig später jedoch an anderer, höherer Stelle Bahn. Nach vier Flugstunden stellt ihm der Aero Club of India & Burma am 10. Februar 1929 die erste Pilotenlizenz Indiens aus. 1932 begründet er Tata Airlines und übernimmt persönlich den ersten Postflug von Karatschi nach Mumbai. 1946 tauft er den Betrieb in Air India um und setzt wenig später auf Internationalisierung. 1948, im Jahr nach der indischen Unabhängigkeitserklärung, folgt der symbolträchtige Jungfernflug auf der Strecke Mumbai - London. Damals gilt Air India als Spitzenairline, pünktlich auf die Minute, mit erstklassigem Service.
Jehs größte Baustelle liegt bald jedoch nicht in den Lüften, sondern zu Lande. 1938 tritt er mit Mitte 30 als Chef der Tata-Gruppe an, die damals 14 Unternehmungen zählt, darunter Stahlgeschäft, Kraftwerke und das noch heute berühmte Taj Mahal Palasthotel in Mumbai. Ein Mischkonzern mit breitem Portfoliomix.
Er führt dieses bald Tata Sons genannte Konglomerat mehr als ein halbes Jahrhundert lang. Als er abtritt, umfasst es an die hundert Tochtergesellschaften. Noch vor dem Zweiten Weltkrieg geht Tata Chemicals an den Start. 1945 begründet Jeh den Autokonzern Tata Motors, der in den 1950er-Jahren eine langjährige Kooperation mit Stuttgarts Daimler-Benz eingeht und bis heute einer der größten Lkw-Produzenten der Welt ist. Tata Consultancy Services (TCS) wiederum macht seit 1968 in Software und IT. Mit mehr als 400 000 Mitarbeitern ist TCS heute das zweitgrößte Börsenunternehmen in Mumbai.
Geschäftsmann und Überflieger
Die größte Niederlage seiner langen Karriere ereilt Jeh indes noch in jungen Jahren, in den frühen 1950ern, als Indiens sozialistisch gepolter Ministerpräsident Jawaharlal Nehru kurzerhand alle Fluggesellschaften verstaatlicht und unter dem Air-India-Dach bündelt. Jeh bleibt noch bis in die 1970er-Jahre Chef, ohne Gehalt zu beziehen.
Die 1930 geschlossene Ehe mit seiner Frau Thelma ist glücklich, bleibt aber kinderlos. Jehs Nachfolger als Tata-Chairman wird 1991 ein entfernter jüngerer Verwandter des Clans, nämlich Ratan Tata, bis heute eine der angesehensten Persönlichkeiten in Indien. Auf die Frage, was das Befriedigendste in seinem Leben war, weist Jeh im hohen Alter gen Himmel: "Nichts kann es mit dem Kick des ersten Soloflugs aufnehmen." Beigesetzt wird er nach seinem Tod 1993 in seiner Geburtsstadt Paris auf dem Friedhof Père Lachaise, wo er seine Ruhestatt inmitten historischer Größen wie Molière, Chopin und Oscar Wilde gefunden hat. Überflieger unter sich.
Heute, fast drei Jahrzehnte später, dürfte er tiefe Genugtuung empfinden. Air India, seit der Verstaatlichung von Politikern, Beamten und Gewerkschaftern in Grund und Boden gewirtschaftet, wird zurzeit von der nationalkonservativen, aber wirtschaftsfreundlichen Regierung Narendra Modis im zweiten Anlauf privatisiert. Schon zur Jahrtausendwende bemühte Tata Sons sich um den maroden nationalen Carrier, blitzte in Neu-Delhi aber ab. 2013 gründet das Konglomerat mit Sitz in Mumbai dann gemeinsam mit Lufthansa-Alliance-Partner SIA die neue Fluggesellschaft Vistara.
Noch 2018, im ersten Privatisierungsanlauf, wollte kein einziger Bieter den überschuldeten, schon vor der Corona-Pandemie chronisch rote Zahlen einfliegenden Flag-Carrier haben. Im zweiten Anlauf dürfte es nun binnen Wochen klappen. Es gibt nur noch eine Handvoll Bewerber; Tata gilt in informierten Kreisen als Favorit. Das liegt zum einen an der überragenden Finanzkraft des Konzerns. Zum anderen dürfte aber auch eine Rolle spielen, dass vor mehr als hundert Jahren ein Junge namens Jeh Tata in den Himmel blickte und ahnte: "The sky is the limit."