Die letzte Phase des Umbaus ist eingeläutet. Die Siemens-Aktie hat zudem kräftig korrigiert. Langfristanlegern bietet sich eine attraktive Kaufgelegenheit. Von Jörg Lang

Der 26. März 2025 könnte sich im späteren Rückblick einmal als ganz wichtiger Tag in der langen Unternehmenshistorie von Siemens entpuppen. Die deutsche Industrie-Ikone, die 1847 als Telegraphen Bau-Anstalt gegründet wurde, hat an diesem Tag nämlich die Übernahme der Softwarefirma Altair Engineering abgeschlossen. 

Der rund zehn Milliarden Dollar teure Deal bringt dem Konzern zusätzliche Kompetenzen in den Bereichen mechanische und elektromagnetische Simulation, bei Hochleistungsrechnern, in der Datenwissenschaft und bei künstlicher Intelligenz. „Wir bauen unsere führende Position im Bereich Industriesoftware weiter aus und ermöglichen es allen Branchen, von der Revolution durch Daten und KI zu profitieren“, gibt sich Roland Busch, Vorstandsvorsitzender von Siemens, selbstbewusst.

Siemens: Beispielloser Umbau

Und der Abschluss des Deals dürfte die letzte Stufe des Unternehmensumbaus gezündet haben, der im Konzernsprech als „One Tech Company Programm“ bezeichnet wird. Wie kein anderer großer Industriekonzern in Deutschland hat sich Siemens in den vergangenen Jahren, Jahrzehnten und fast zwei Jahrhunderten gewandelt. Die Aktivitäten des alten Elektrokonzerns sind heute unter anderem Dach überall auf der Welt zu finden. Beispiele sind etwa das traditionelle Geschäft mit Telefonnetzen, das nun bei dem finnischen Telekomausrüster Nokia beheimatet ist, die ehemalige Siemens-Halbleitersparte firmiert seit 1999 unter Infineon, das Geschäft mit Lampen ist als Ams-Osram in Österreich zu Hause.

Wichtige Schritte der Straffung hatte Siemens dann ab 2015 auf den Weg gebracht. Die Kraftwerksparte und Stromnetztechnik wurden unter Siemens Energy ebenso verselbstständigt wie die Medizintechnik, die heute unter Siemens Healthineers firmiert. Beide Bereiche kamen an die Börse. Während Siemens Energy, ähnlich wie zuvor auch Osram, an die Aktionäre abgespalten wurde, gab es bei Healthineers einen Börsengang. Aktuell hält der Konzern noch rund 17 Prozent an Siemens Energy, am Medizintechnikbereich ist er noch mit 72 Prozent Mehrheitseigner. Das Geschäft wird im Konzern voll konsolidiert, der Börsenwert des Anteils liegt bei rund 34,9 Milliarden Euro.

Siemens (WKN: 723610)

Lukrative Verkaufskandidaten

Neben den Beteiligungen gibt es drei operative Bereiche. Hinter der Spartenbezeichnung „Digital Industries“ verbirgt sich ein breites Angebot an Lösungen, etwa um die Fertigung bei Firmen zu automatisieren beziehungsweise zu digitalisieren. Dazu gehört das wohl größte Portfolio industrieller Softwarelösungen. Der zweitgrößte Sektor wird als Berichtseinheit „Smart Infrastructure“ geführt. Siemens vernetzt hier etwa Energiesysteme, Gebäude und Industrien. Einen großen Block bilden Rechenzentren, die zur Nutzung aufgerüstet werden. Der Bereich hat über KI Anknüpfungspunkte zu Digital Industries. Und die sollen im One Tech Company Programm ausgebaut werden. Die Bereiche sind angehalten, gemeinsame Lösungen zu entwickeln, die Produkte übergreifend anzubieten.

Weniger Gemeinsamkeiten gibt es zur dritten operativen Einheit, die der Konzern unter „Mobility“ führt. Siemens stellt Züge, aber auch Bahninfrastruktur her und hat ein entsprechendes Dienstleistungsangebot. Selbst für den außenstehenden Beobachter ist gut erahnbar, was die letzten Fokussierungsschritte sein müssten. Der Konzern wird seine Anteile an den notierten Firmen abbauen beziehungsweise ganz verkaufen. Zur Medizintechnik gibt es keine Synergien, bei der Energietechnik ist der Anteil zu gering. „Das Management sollte sich zudem über die Sinnhaftigkeit des Bereichs Mobility Gedanken machen“, sagen die Analysten von Berenberg.

Wegen der niedrigeren Margen und höheren Kapitalkosten hat der Bereich eigentlich keine Zukunft in der neuen Aufstellung. Schon früher wurde hier ein Zusammenschluss mit dem französischen Wettbewerber Alstom in Erwägung gezogen. Die Verbindung wurde dann aber verworfen. Gleichwohl firmiert der Bereich seitdem als eigenständige Gesellschaft, was künftige Optionen beschleunigen kann. Ob der Bereich wie Healthineers oder auch Energy an die Börse gebracht wird oder vielleicht sogar an eine Beteiligungsfirma geht, muss sich zeigen. Klar ist: In die Kassen könnten aus den Verkäufen bis zu 50 Milliarden Euro fließen, die dann in den Ausbau der verbleibenden Bereiche investiert werden können.

Siemens: Vorreiter der Digitalisierung

Und hier kommen wir zurück zur These, warum der Abschluss der im vergangenen Herbst verkündeten Altair-Übernahme so besonders ist. Der Konzern hat in den letzten Jahren die Plattform Siemens Xcelerator aufgebaut, die mit Altair-Technik nun über das breiteste Angebot an Industriesoftware verfügen wird. Industriesoftware greift etwa über Steuerung von Maschinen und Anlagen direkt in den Produktionsprozess ein. Das ist schon lange bewährte Technik.

Zukunftsweisend wird es mit dem sogenannten digitalen Zwilling, einer Technologie, die Siemens entwickelt hat und die nun durch Altair in wichtigen Bereichen Ergänzung finden wird. Vereinfacht ausgedrückt, werden mit der Technologie komplette Produktionsprozesse simuliert. Das System verarbeitet alle Daten von den Anlagen, den Produkten und den gewünschten Prozessen. Der Kunde kann, bevor in physische Prototypen investiert wird, Entwicklungen vorhersagen und damit Fehler vermeiden. Der Vorteil ist offensichtlich: Man spart viel Zeit und Geld. Die Technik kann die Produktion auch Realtime begleiten und laufend Fehler beseitigen. Vergangenes Jahr hatte die Sparte konjunkturell Gegenwind. Der Zwang der Firmen, ihre Produktion zu digitalisieren, ist aber der maßgeblich überlagernde Trend. Wenn etwa in den USA eine neue Produktionsbasis geschaffen werden soll, wird es ohne Siemens kaum gehen.

Korrektur bietet Einstiegschance

Und der Konzern ist mit dem Ausbau noch nicht zu Ende, dockt weitere Spezialisten an das System an. So wurde gerade – kurz nach Abschluss des Altair-Deals – die Übernahme von Dotmatics, einem US-Softwareentwickler für die Pharmabranche, gemeldet. Mit dem Spezial-Know-how erschließt sich der Konzern einen zusätzlichen Markt von rund zehn Milliarden Euro, der bisher nicht adressiert werden konnte. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass weitere solche Buy-and-Build-Übernahmen folgen, sich Siemens zu einer Art SAP für Produktionsprozesse entwickelt. Für den Konzern hat das den Vorteil, dass immer mehr hochmargige Software-Erlöse generiert werden, sei es über Lizenzen und Wartung oder über gut planbare langfristige Mietmodelle.

Zuletzt hatte die Aktie im Umfeld von den Finanzturbulenzen an der Börse ebenfalls kräftig korrigiert und ist in die Trading-Range des vergangenen Jahres zurückgefallen. Die niedrigeren Kurse bieten nun keine schlechte Gelegenheit zum Einstieg oder zum Ausbau der Position. Die nun beginnende Phase müsste eigentlich einhergehen mit höheren Kapitalrenditen und folglich auch mit einem steigenden Gewinnmultiplikator. Kursziel: 245 Euro!

Übrigens: Dieser Artikel erschien zuerst in der neuen Print-Ausgabe von BÖRSE ONLINE. Die finden Sie hier

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