Knapp drei Monate nach Ausbruch des größten Betrugsskandals der deutschen Autoindustrie im Volkswagen-Konzern will VW-Chef Matthias Müller eine Zwischenbilanz ziehen. Am Mittwoch tagt der Aufsichtsrat über die "Diesel-Thematik", wie der Konzern die Manipulation der Abgaswerte von rund elf Millionen Autos weltweit nennt. Am Donnerstag werden Müller und Aufsichtsratschef Hans Dieter Pötsch die Öffentlichkeit über den neuesten Stand der Aufklärung und die künftige Ausrichtung des größten europäischen Autokonzerns am Hauptsitz in Wolfsburg informieren. Für Müller ist es nach seinem Amtsantritt Ende September der erste große öffentliche Auftritt.

Dass er dabei unmittelbar Verantwortliche für den Skandal namentlich nennen wird, sei allerdings nicht zu erwarten, heißt es aus dem Konzern. Die Ermittlungen seien nicht abgeschlossen und vorzeitige Schuldzuweisungen zu heikel angesichts der vor allem in den USA auf VW zurollenden Klagewelle.

Auch an der Spitze werden wohl keine weiteren Köpfe rollen, wenngleich Kritiker wie der Fondsmanager Ingo Speich von Union Investment einen radikalen Neuanfang fordern. Nach Konzernchef Martin Winterkorn ist aus der obersten Führungsriege Audi-Entwicklungschef Ulrich Hackenberg über den Skandal gestürzt. Offiziell wurde das Ausscheiden des 65-jährigen aber nicht mit "Dieselgate" in Zusammenhang gebracht. Einschließlich Hackenberg war kurz nach Bekanntwerden des Skandals ein halbes Dutzend Topmanager suspendiert worden, unter ihnen VW-Entwicklungschef Heinz-Jakob Neußer. Zudem steht Audi-Chef Rupert Stadler unter Beschuss, da die Premiumtochter eine Schummelsoftware in einem auch bei Porsche verbauten Sechszylinder-Motor installierte, dies aber zunächst abstritt. Stadler hatte vergangene Woche bereits das Scherbengericht im Audi-Aufsichtsrat überstanden. Nun soll er seine Aufklärungsarbeit noch einmal den VW-Kontrolleuren präsentieren.

Eine Personalie, die nichts mit dem Abgasskandal zu tun hat, wird der Aufsichtsrat voraussichtlich absegnen. Der Stahlmanager Karlheinz Blessing soll Insidern zufolge als Personalvorstand auf den kürzlich in Ruhestand gegangenen Horst Neumann folgen.

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DAS WUNDER VON WOLFSBURG



VW-Chef Müller wird sich am Donnerstag einmal mehr der Frage stellen müssen, was die Techniker vor Jahren dazu getrieben hat, per Software die Stickoxid-Werte von Diesel-Motoren auf dem Prüfstand künstlich herunterzuregeln. Das Vorgehen wird umso unverständlicher, als die Manipulation mit überraschend wenig Aufwand - einem Software-Update bei den größeren und einem simplen Plastikrohr bei den kleineren Motoren - behoben werden soll. In der Branche wird schon ungläubig vom "Wunder aus Wolfsburg" gesprochen, mit dem die Diesel-Motoren gesetzeskonform werden sollen.

Analysten erhoffen sich neue Hinweise zu den Kosten der im kommenden Jahr startenden Rückrufaktionen, für die VW bisher 6,5 Milliarden Euro zurückgelegt hat. "Es klingt danach, als wäre es weniger", sagte Frank Schwope, Analyst bei der NordLB. Er schätzt die Gesamtkosten inklusive Geldstrafen, Schadensersatz und der Steuernachzahlungen wegen geschönter CO2-Angaben auf 20 Milliarden Euro.

Zur Sprache kam bei der Ursachenforschung schon, dass autoritäre Führungsstrukturen unter Winterkorn dazu führten, Schwierigkeiten unter den Teppich zu kehren. Müller will deshalb die Unternehmenskultur umkrempeln. Die Beschäftigten sollten verantwortungsbewusster und eigenständiger werden und stärker unternehmerisch denken, sagte er der Zeitschrift "Stern". "Das gelingt nur durch Offenheit, die man täglich vorlebt."

Reuters