Die neue St. James-Analyse warnt: Der ETF-Boom macht Märkte anfällig. Wenn Kapitalströme kippen, droht aus Stabilität ein gefährlicher Strudel zu werden.

In den vergangenen Jahrzehnten war Index-Investing der Inbegriff rationaler Geldanlage. Passiv statt aktiv, kostengünstig statt teuer, systematisch statt spekulativ. 

Doch was einst als geniale Finanzinnovation gefeiert wurde, ist heute selbst zu einer gigantischen Marktmacht herangewachsen – und könnte sich, so warnen einige Strategen, in eine gefährliche Blase verwandeln.

Mehr ETFs als Aktien – ein historischer Kipppunkt

Laut Daten von Morningstar und Bloomberg werden an den US-Börsen aktuell rund 4.370 ETFs gehandelt – und damit mehr als die 4.172 börsennotierten Einzelaktien. Das Volumen, das über Indexfonds und ETFs bewegt wird, hat sich in den vergangenen 15 Jahren vervielfacht. Mit inzwischen rund 12 Billionen Dollar an verwaltetem Vermögen ist das ETF-Universum größer als je zuvor.

Das Prinzip ist simpel: ETFs bündeln Aktien in einem Korb, bilden Indizes wie den S&P 500 oder den MSCI World ab und ermöglichen Anlegern, günstig und breit diversifiziert zu investieren. Was nach Finanzdemokratisierung klingt, birgt jedoch eine Ironie: je mehr Anleger blind in Indizes investieren, desto stärker prägt genau dieses Kapital die Preisbildung – und verdrängt klassische, fundamental getriebene Anlageentscheidungen.

Wenn Kapitalströme den Markt treiben

Die neue Ausgabe des "Adviser Letters" von St. James Investment Co. liefert einen scharfen analytischen Blick auf die Mechanismen hinter dem ETF-Boom – und kommt zu einer klaren Warnung: Die Dominanz passiver Kapitalströme hat den Markt in eine strukturell anfällige Lage gebracht. Was als Instrument zur Vereinfachung gedacht war, könnte im Krisenfall zum Katalysator massiver Marktverwerfungen werden.

St. James beschreibt, wie sich in den vergangenen Jahren die Preissetzung an den Börsen grundlegend verschoben hat. Immer weniger Investoren treffen Anlageentscheidungen auf Basis fundamentaler Kennzahlen. Stattdessen dominieren die Kapitalflüsse aus Indexfonds und ETFs die Preisbildung. Hinzu kommt, dass viele institutionelle Anleger als closet indexers agieren: Sie bezeichnen sich als aktiv, folgen aber de facto eng den großen Indizes. Dadurch ist der passive Anteil des Marktes deutlich höher, als Statistiken vermuten lassen.

Diese Dynamik ist laut St. James nicht linear, sondern potenziell explosiv. Schon kleine Kapitalabflüsse können Rückkopplungseffekte auslösen, die sich selbst verstärken. Wenn die Masse in dieselbe Richtung steuert, kippt das System nicht langsam – sondern abrupt.

Überbewertungen und kollektive Erzählungen

Besonders deutlich zeigt sich dieser Mechanismus im Tech- und KI-Sektor. Solange Anleger davon überzeugt sind, dass alle an dieselbe Zukunftsgeschichte glauben, steigen die Bewertungen weiter – unabhängig von den tatsächlichen Erträgen. St. James illustriert dies mit Projektionen, die zeigen: Um das aktuelle Bewertungsniveau zu rechtfertigen, wären Umsatz- und Gewinnsprünge nötig, wie es sie historisch kaum gegeben hat.

Wenn aber das Vertrauen in diese Erzählung bröckelt, kippt der Herdentrieb. Die Kapitalströme, die den Markt nach oben getragen haben, kehren sich um – und wirken wie ein Hebel nach unten. Dann wird sichtbar, dass die Rallye weniger auf realer Wertschöpfung basiert, sondern auf der kollektiven Bereitschaft, weiter Geld nachzuschießen.

Die stille Klippe im System

Ein besonders alarmierender Gedanke in der St. James-Analyse ist das Konzept der „Bewertungsumkehr-Klippe“. Der Markt erreicht irgendwann einen Punkt, an dem zusätzliche ETF-Zuflüsse kaum noch stützen, während Abflüsse überproportionale Wirkung entfalten. In einem solchen Szenario kann sich Stabilität in Fragilität verwandeln – schnell, unkontrolliert und verstärkt durch automatisierte Mechanismen passiver Fonds.

St. James’ Fazit ist eindeutig: ETF-Strukturen können Märkte stabilisieren, solange Vertrauen herrscht. Wenn sich die Richtung der Kapitalströme jedoch ändert, verwandelt sich diese Stabilität in ein Risiko. Der ETF-Boom hat die Finanzmärkte effizienter gemacht – aber auch anfälliger für Schocks, die sich innerhalb weniger Tage potenzieren können.

Überbewertet und anfällig

Das Problem verschärft sich durch die hohe Bewertung des Marktes. Der S&P 500 wird aktuell mit einem KGV von rund 26 gehandelt – deutlich über dem historischen Schnitt. Der Shiller-CAPE-Index, der langfristige Bewertungen glättet, liegt bei etwa 40 – fast auf dem Niveau der Dotcom-Blase um die Jahrtausendwende.

Der sogenannte Buffett-Indikator, das Verhältnis von US-Börsenwert zu Bruttoinlandsprodukt, liegt bei 216 Prozent – einer der höchsten Werte aller Zeiten. Legendäre Investoren wie Howard Marks warnen: Auf ähnlich hohen Bewertungsniveaus folgten in der Vergangenheit stets magere Renditen über die nächsten zehn Jahre.

Einfache Produkte, komplexe Folgen

Dass es inzwischen mehr ETFs als Aktien gibt, ist kein Zufall. Der Markt hat eine Fülle an „Rezepten“ entwickelt – von KI-Themenfonds über Clean Energy bis hin zu Single-Stock-ETFs mit Hebel. Doch während diese Vielfalt Anlegern Freiheit suggeriert, profitieren vor allem die Anbieter: Je mehr Produkte, desto mehr Gebühren.

„Choice overload ist das zentrale Problem“, sagt Ben Johnson von Morningstar. „Anleger haben zu viele Möglichkeiten – und oft zu wenig Wissen, um die Unterschiede zu verstehen.“ Hinzu kommt ein kaum beachtetes Risiko: ETF-Schließungen. Im Gegensatz zu Aktien, die bei Insolvenz wertlos werden, erhalten Investoren bei Fondsschließungen zwar ihr Geld zurück. Doch oft bleibt ein steuerpflichtiger Gewinn, der unfreiwillig realisiert wird. Und Fonds mit geringem Volumen und niedriger Liquidität sind besonders gefährdet.

Passives Investieren als systemischer Risikofaktor

Die eigentliche Sprengkraft entsteht jedoch in Krisenmomenten. Wenn Millionen Anleger in denselben Index investieren – und ihn gleichzeitig wieder verlassen –, verstärken passive Fonds Marktbewegungen dramatisch.

Ein Beispiel: Wenn Anleger massenhaft MSCI-World-ETFs verkaufen, müssen die Fondsanbieter automatisch alle enthaltenen Aktien im gleichen Verhältnis abstoßen. Es gibt kein aktives Management, das gegensteuert. Diese automatische Verkaufswelle kann Abwärtsspiralen beschleunigen und Liquidität verknappen – ein potenzieller Brandbeschleuniger in ohnehin nervösen Märkten.

Parallelen zur Dotcom-Blase – und zur KI-Euphorie

Zwar gilt KI derzeit als großer Wachstumstreiber. Doch die Bewertungen sind extrem: Nvidia ist inzwischen mehr als 4,7 Billionen Dollar wert – mehr als alle 2.000 Unternehmen des Russell 2000 zusammen. Studien wie jene des MIT zeigen, dass 95 Prozent der aktuellen KI-Investitionen noch keine nennenswerten Renditen bringen.

Ähnlich euphorisch war die Stimmung im Jahr 1999, als das Internet die Wirtschaft revolutionieren sollte – was auch geschah. Nur eben viel später und nach einem brutalen Absturz. Anleger, die damals auf den Nasdaq 100 setzten, brauchten fast 15 Jahre, um inflationsbereinigt wieder ins Plus zu kommen.

Wenn Indexfonds zum Risiko werden

Das Paradoxe: Indexfonds wurden einst geschaffen, um Risiken zu reduzieren. Heute können sie selbst zu einem Risiko für die Finanzstabilität werden. Sollten in einer Marktkrise große Kapitalströme abgezogen werden, würden die mechanischen Strukturen der ETFs die Korrektur verstärken, nicht abfedern.

„Wenn sich alle gleichzeitig Richtung Ausgang bewegen, spielt es keine Rolle mehr, ob du am Anfang oder am Ende der Schlange stehst“, formulierte es ein Marktstratege jüngst trocken.

Der ETF-Boom braucht mehr Bewusstsein

Der ETF-Markt ist nicht per se gefährlich – aber er ist systemisch bedeutend geworden. Je größer der passive Anteil, desto geringer die Rolle klassischer Marktmechanismen. Anleger sollten sich dieser Dynamik bewusst sein, gerade wenn sie ihr gesamtes Vermögen in MSCI World & Co. stecken.

ETF-Investing ist bequem. Aber Bequemlichkeit ersetzt keine Risikosteuerung. Wer sein Portfolio ausschließlich auf Indexfonds stützt, sollte sich fragen: Wer sitzt im Führerhaus, wenn es an der Börse ruckelt?

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Infront S&P 500 (WKN: A0AET0)